Saisonauftakt in Augsburg:Lichtung und Wahrheit

Saisonauftakt in Augsburg: Gefährlicher Mittelpunkt: Drogendealer Johnny Byron, gespielt von Sebastian Müller-Stahl (Mitte), zieht die Jugendlichen in "Jerusalem" an.

Gefährlicher Mittelpunkt: Drogendealer Johnny Byron, gespielt von Sebastian Müller-Stahl (Mitte), zieht die Jugendlichen in "Jerusalem" an.

(Foto: Jan-Pieter Fuhr)

Das Staatstheater Augsburg startet mit dem britischen Drama "Jerusalem" über einen Drogenhändler in die neue Spielzeit. Warum das als Coup gilt.

Von Yvonne Poppek, Augsburg

Die Lichtung ist eine Müllhalde. Immerhin eine bewohnte. Ein Wohnwagen wurde da abgestellt. Sollte der einmal bessere Tage gehabt haben, ist ihm das kaum anzusehen. Kaputte Gartenstühle aus Plastik wurden achtlos irgendwo hingeworfen, aus einem zertrümmerten Fernseher ragt ein Schläger. Natürlich verstreuen sich rundherum Flaschen, Dosen, Papierfetzen. Es fehlt nur noch ein Grill, zumindest bei den Proben Ende Juli, um den Naturalismus dieser Szenerie perfekt zu machen. Vielleicht gibt es den ja bei der Premiere am Samstag, 10. September. An diesem Tag kommt "Jerusalem" von Jez Butterworth am Staatstheater Augsburg heraus - ein Coup, mit dem die neue Spielzeit im Martinipark eröffnet wird. Und es ist schon so: Vor einem solchen Wohnwagen muss gegrillt werden, nicht nur, weil es bei Butterworth im Text steht.

Das liegt allerdings in der Hand von André Bücker. Zum einen, weil er der Intendant des Staatstheaters ist und als solcher auch die feuerpolizeilichen Regelungen im Blick haben sollte. Zum anderen, weil er "Jerusalem" inszeniert - und das eben in einem für ihn eher untypisch naturalistischen Bühnenbild. "Da haben wir uns richtig ausgetobt", sagt Bücker. Hingestellt hat ihm diese Lichtungsmüllhalde Jan Steigert, mit großer Hingabe zum Detail. Darin soll nun die deutsche Erstaufführung des britischen Erfolgsdramas ablaufen. Grundsätzlich lässt sich feststellen: Man darf darauf gespannt sein.

Die Proben hatte Bücker fünf Wochen vor der Sommerpause aufgenommen. Ende Juli standen schon die ersten Durchläufe an und das im Original-Bühnenbild und nicht auf einer Probebühne - eine Luxussituation. Die Aufführungen des Staatstheaters sind regelmäßig in dieser Zeit nicht mehr in den Spielstätten, sondern unter freiem Himmel am Roten Tor zu sehen, als beliebtes Open-Air-Theater-Event. Auch diesmal sei es ein erfolgreicher Saisonabschluss, sagt Bücker. "Kiss me, Kate" sei unter den drei bestbesuchten Premieren der vergangenen zwölf Jahre. In die Debatte, warum die Zuschauer bislang nicht im gewohnten Maße zurückgekehrt seien, will der Augsburger Intendant Ende Juli gar nicht einsteigen. Mit der abgelaufenen Saison 2021/2022 sei er "ganz zufrieden". Es kämen ein "bisschen weniger" Zuschauer als gewohnt zu den Aufführungen. Auslastungszahlen will das Haus zu Beginn der neuen Saison vorstellen.

Den Untergang der Kultur auszurufen, nur weil weniger Zuschauer kommen, findet Bücker langweilig

Die Corona-Spielpause habe das Staatstheater genutzt, um die Disposition auf den Prüfstand zu stellen, die Sommerpause zu verkürzen, Produktionsprozesse seien entzerrt worden, das Abo laufe nun spielzeitübergreifend. Die Maßnahmen würden in Augsburg langsam greifen. Weil generell weniger Zuschauer in die Theater kämen, würde aber gerade der Untergang der Kultur ausgerufen. "Das ist so langweilig", sagt Bücker. Auch sei es jetzt zu früh, um zu sagen, welche Stoffe auf die Bühne gehören. Grundsätzlich sei es so, dass es Themen gebe, die richtig und wichtig seien, aber die keine 600 Plätze füllten. Und andere Stücke machten das Haus voll. Man müsse das eine tun und das andere nicht lassen, so sieht das der Augsburger Theaterchef.

Eine Erkenntnis indes war in der Debatte von einigen deutschen Intendanten zu hören: nämlich die, dass gerade die großen Erzählungen auf der Bühne gefragt seien. In eben dieses Feld gehört auch Butterworths "Jerusalem". 2009 kam es in London am Royal Court Theatre heraus, die Hauptrolle des Johnny "Rooster" Byron spielte Mark Rylance. Die Inszenierung wurde von hymnischen Kritiken überschüttet, an der Kasse bildeten sich lange Schlangen, fast augenblicklich entwickelte "Jerusalem" einen "nahezu mythischen Ruf", wie der Guardian schrieb. Diese Reputation wurde noch dadurch gefestigt, dass es bald darauf im West End und dann am Broadway gespielt wurde. 2022 wurde das Kultstück im West End wieder aufgenommen, erneut mit Mark Rylance in der Hauptrolle.

Saisonauftakt in Augsburg: Bei der Uraufführung in London spielte Mark Rylance die Rolle des Johnny "Rooster" Bayron. Am Staatstheater Augsburg übernimmt dies Sebastian Müller-Stahl.

Bei der Uraufführung in London spielte Mark Rylance die Rolle des Johnny "Rooster" Bayron. Am Staatstheater Augsburg übernimmt dies Sebastian Müller-Stahl.

(Foto: Jan-Pieter Fuhr)

Den Rooster in Augsburg spielt Sebastian Müller-Stahl, einer, der die Rolle auch ausfüllen kann. In "Jerusalem" lebt Rooster in einem Wohnwagen im Wald und verkauft dort Drogen. Damit zieht er die Jugendlichen aus dem nahe gelegenen Ort an, denen er die märchenhaftesten Geschichten erzählt. Auf Rooster richtet sich dabei der Zorn der Behörden, der Anwohner aus der neuen, benachbarten Siedlung und der Eltern, deren Kinder nicht mehr auftauchen. Die Lage ist bedrohlich. Faszinierend ist, welche Anziehungskraft Butterworth in diesen schäbigen Geschichtenerzähler hineingeschrieben hat. Eine magnetische Figur hat er entwickelt, die, so wurde es in den britischen Medien gedeutet, den Zustand einer ganzen Gesellschaft abbildet.

Bücker findet "Jerusalem" einzigartig komponiert. "Das ist mir lange nicht untergekommen, diese Wucht zu erzählen", sagt er. Jede Figur habe eine Biografie, Sehnsüchte, Ängste. Dabei ist Butterworth nicht weitschweifig. In den knappen Dialogen vermag er es, Stimmungen grandios nuanciert abfallen, sich zuspitzen zu lassen. Die Spannung hält er damit hoch, nie ist eine Situation verlässlich, die Figuren in ihr ohnehin nicht.

Das Stück für Augsburg entdeckt hatte der Dramaturg Lutz Keßler, der 2009 "Jerusalem" in London gesehen habe, sagt Bücker. Zwei Jahre lang haben sie sich dann bemüht, die Rechte für die deutschsprachige Erstaufführung zu bekommen, wofür sie in Kontakt mit einem Agenten in den USA standen. "Wir hatten letztlich einen Vertrag und konnten es kaum glauben", sagt Bücker. Mit der deutschen Übersetzung haben sie dann Michael Raab beauftragt, der für Butterworths Figuren die richtige Sprache gefunden hat, um Brutalität und Verletzlichkeit gleichermaßen zu erhalten. Jetzt kommt "Jerusalem" in Augsburg heraus, quasi ein Saisonauftakt mit Lichtungsstreit.

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