Augsburger Brechtfestival:Über diese Brücke musst du gehen

Augsburger Brechtfestival: Ankunft: Mit einer Parade zieht das Brechtfestival vom Zentrum in den Stadtteil Lechhausen.

Ankunft: Mit einer Parade zieht das Brechtfestival vom Zentrum in den Stadtteil Lechhausen.

(Foto: Bruno Tenschert)

Neues Publikum finden? Geht! Julian Warner hat das Augsburger Brechtfestival neu erfunden - im Arbeiterviertel Lechhausen.

Von Yvonne Poppek, Augsburg

Der Motorradclub ist auch dabei, MC Kuhle Wampe Augsburg. Die Mitglieder des Clubs, dessen Name einige von ihnen beim Wort nehmen, tragen Biker-Jacken, gerne auch Bart. Die Frauen - ja, die gibt es bei Kuhle Wampe - tun dies natürlich nicht, doch auch ihnen traut man schwere Maschinen zu. Sie führen ein Banner mit sich, auf dem sie gegen Fremdenhass und Rassismus eintreten. Und sie haben ihre Fahne mit dem Club-Emblem dabei: ein Stern, in dessen Mitte Bertolt Brecht zu sehen ist, der beim Film "Kuhle Wampe" mitschrieb. Wegen ihm sind sie hier, mitten in einer Parade am 125. Geburtstag des Dichters. Mit Begeisterung. Und das allein erzählt schon viel über das diesjährige Kulturereignis in Schwaben.

Am Wochenende ist dort ein komplett neuartiges Festival entstanden. Und, sorry für alle Städte, die sich sonst an der Spitze der bayerischen Avantgarde sehen: Das war tatsächlich in Augsburg. Die Stadt, die den Ruf hat, eher den Durchschnitt zu repräsentieren als hipp zu sein, hat mit Julian Warner einen Kurator und Künstler verpflichtet, der die jährliche Dichterehrungswoche, das Brechtfestival, umgekrempelt hat. Ob da jedes Detail gut ist, sei dahingestellt. Aber dieses Festival grast nicht auf der satten Weide aller ohnehin Kulturbeflissenen. Es hat sich ein größeres Terrain ausgesucht, den Acker für alle. Wie? Tja, tatsächlich fühlt sich wohl jeder einfach irgendwie gemeint.

Um das zu erzählen, muss man am Anfang anfangen. Auch wenn es so spannende Projekte gibt wie eine KI, die einen Brechttext schreibt. Aber dazu später. Es geht los im Goldenen Saal der Stadt. Ein ehrwürdiger Ort, früher oft brav bestuhlt, an dem beispielsweise Schauspieler Thomas Thieme mit zur Prunkdecke passendem Pathos die "Erinnerungen an Marie O." vortrug. Am Freitag, an dem Tag also, an dem Brecht 125 Jahre alt geworden wäre, steht da eine Tischtennisplatte. Männer unterschiedlichster Statur und unterschiedlicher Ausdeutung von Sportklamotten schmettern den Ball übers Netz. Ein paar andere Gruppen gibt es, deren jeweilige Zusammengehörigkeit an ihren ähnlichen Outfits zu erkennen ist, lila Westen etwa, blaue Schals oder Polyester-Jacken im Neunziger-Look. Unter großen bunt bemalten Tüchern verrenken sich ein paar Performer. Stühle? Fehlanzeige.

Ein Rednerpult gibt es allerdings schon. Da tritt als erster Julian Warner hin, den Festivalgast Okhiogbe Omonblanks Omonhinmin später als "very funky black director" bezeichnen soll. Da weiß man schon längst, dass dem Festivalleiter die Herzen hier zugeflogen sind. Warner hält vermutlich eine der kürzesten Eröffnungsreden an einer solch prominenten Stelle, im Kern geht es darum: "Wenn Sie hier leben, ist das Ihre Heimat und das Brechtfestival ist für Sie." Und dann folgt Erstaunliches: Es kommt kein Vertreter der Stadt, kein Brecht-Experte, sondern Arda Efeoglu und Beste Duman von der Alevitischen Gemeinde. Wer? Ja, genau.

Augsburger Brechtfestival: Zu festlichen Anlässen standen hier schon auch einmal Stühle. Beim diesjährigen Brechtfestival ist es eine Tischtennisplatte.

Zu festlichen Anlässen standen hier schon auch einmal Stühle. Beim diesjährigen Brechtfestival ist es eine Tischtennisplatte.

(Foto: Bruno Tenschert)

Die Alevitische Gemeinde stellt in diesem Jahr eine der Spielstätten zur Verfügung. Ihr Gemeindehaus liegt in Augsburg-Lechhausen, einem Arbeiterviertel der Stadt. Efeoglu und Duman treten nun also ans Mikrofon im Goldenen Saal und ihnen wie allen nachfolgenden, ebenfalls nicht hochoffiziellen Rednern ist anzumerken, dass ihnen das viel bedeutet, sichtbar sind Erstaunen, Dankbarkeit, sympathisches Selbstbewusstsein. "Jeder bringt etwas mit", so hat Warner seine Idee vorher erklärt. Und mit "jeder" sind nicht nur die gemeint, die sonst an solchen Mikros stehen. Tatsächlich ist es auch gar nicht so schlimm, dass Warner sich eine längere Beitragsliste gemacht hat. Da ist nichts dabei, was man so schon einmal gehört hat, ob nun politische Botschaften zum Krieg in der Ukraine, Worte der Trauer für die Erdbebenopfer, feministische Standpunkte, ein Auftritt des Gebärdenchors, Gedanken zum Tischtennis, alles originär.

Allein mit diesem Intro ist Warner schon Verblüffendes gelungen. Es fühlen sich Menschen künstlerisch und für die Stadtgesellschaft ernst genommen, die manchmal eher das Gefühl haben, bei beidem außen vor zu sein. Und dafür müssen sie nicht erst einen Kunst-Workshop besuchen. Heraus kommt Enthusiasmus. Und mit dem geht diese offizielle, aber informelle Eröffnung dann weiter auf die Straße.

Auf die Idee, das Festival nach Lechhausen zu verlegen, kam noch keiner

Warner hat sich eine Parade ausgedacht, um vom Goldenen Saal in den Stadtteil Lechhausen zu ziehen. Früher, als Schwaben noch eigenständig war, gehörte Lechhausen zu Bayern. Auf die Idee, hier das Festivalzentrum aufzuschlagen, ist noch keiner gekommen. Dafür musste auch erst eine Infrastruktur erfunden, Orte gesucht, Ideen entwickelt werden.

Eine ist eben nun die Parade. Vorneweg wird ein riesiger Teppich, der für dieses Festival gewebt wurde, mit Brechts Konterfei getragen. Hinterher folgen die Gruppen aus dem Rathaus, dazu Musiker - unter anderem Markus und Micha Acher von The Notwist - und immer mehr Neugierige. Sie schieben sich durch die Altstadt, auf den Lech zu, machen Station, wenn Ensembles etwas aufführen, ob eine Performance der Choreografin Joana Tischkau oder Cheerleading vom Turnverein. So kommt man in Lechhausen an, empfangen von der Blaskapelle, mit Tuba und Trompete.

Augsburger Brechtfestival: Es ist Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die ganz klassisch auf Brechts Lebensweg und seine Dichtung eingeht.

Es ist Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die ganz klassisch auf Brechts Lebensweg und seine Dichtung eingeht.

(Foto: Bruno Tenschert)

Ein Geburtstagsfest für Brecht wäre aber falsch, ohne Fressen und Moral. Also gibt es in der Alevitischen Gemeinde am Abend noch ein Bankett für rund 350 Menschen. Hier ist es Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die ganz klassisch auf Brechts Lebensweg und seine Dichtung eingeht, klug und interessant. Es soll der einzige Teil bleiben, der sich offiziell anfühlt. Das liegt viel an dem Künstler Damian Rebgetz, der durch den Abend führt, schräg, leicht, witzig, ein Moderator, der auch ohne Gesprächspartner auskommen würde. Der "funky director" tritt später als sein Alias Fehler Kuti auf, fürs Essen zahlt jeder das, was er kann. Die Stimmung ist gelöst. Besser kann kein Festival in einer Stadt ankommen.

Nach diesem Dreiklang zum Auftakt muss sich Warners Festival an den anderen Tagen nun aber behaupten. Wie sieht das denn in Lechhausen aus? Grundsätzliche Antwort: kleinteilig. Ziel ist es nicht, möglichst viele Menschen an einen Ort zu holen (wobei es das auch gibt), sondern an verschiedene Orte. Einer ist der Saalbau Krone, ein Trachtenvereinsheim in einer Wohngegend mit niedrigen Ein- und Mehrfamilienhäusern. Absolut kontrapunktisch zum Ort ist hier zum Beispiel das Programm der "Brechtmaschine" angesiedelt, ein Projekt mit der künstlichen Intelligenz GPT-3.

Augsburger Brechtfestival: Als Fehler Kuti tritt er beim Bankett selbst auf: Festivalleiter Julian Warner.

Als Fehler Kuti tritt er beim Bankett selbst auf: Festivalleiter Julian Warner.

(Foto: Bruno Tenschert)

Tina Lorenz vom Staatstheater hat mit GPT-3 gearbeitet und die Brechtmaschine so programmiert, dass sie "Fan-Fiction" produzieren kann, wie sie sagt. Also Texte, die sich im Stil an Brecht anlehnen. Das wird in lustigen Formaten ausprobiert wie einer Quizshow - Was ist Brecht, was GPT-3? - oder in einer Runde, in der der Brecht-Bot gefragt wird, was man schon immer von Brecht wissen wollte. Das ist niederschwellig, der Saalbau Krone ist gut besucht, die Leute machen mit. Das Ergebnis ist haarsträubend komisch. Frage: Wer bist Du? Antwort: Ich bin Bertolt Brecht und ich bin ein Stück Metall. Darauf, ob er sich selbst als zwangsläufig sehe, antwortet der Bot verschwurbelt mit einer "Schweineschnitzelverordnung".

Ungefähr so lustig ist auch das Projekt, mit der KI einen Brechttext zu schreiben. Dafür speist man die Maschine mit ein paar Details, und sie gibt einen Text heraus, der darauf folgen könnte. Lässt man das zu, kommen zwei Männer und eine Frau am Lechufer zusammen, es gibt ein ominöses Buch. Die Frau erschießt die Männer, weil sie keinen Namen hat. Dann fällt der Generalbundesanwalt die Böschung herab und stirbt mit einem Teddy im Arm, erstochen von der Frau. Steuert man GPT-3 etwas mehr, kann daraus ein absurdes Stück zur Rettung des letzten Pflaumenbaums werden. Gelesen wird das dann von Ensemblemitgliedern des Staatsschauspiels, das ist schrecklich und herrlich.

Augsburger Brechtfestival: Die große Bühne wird beim Brechtfestival auch bespielt: Auftritt der "Dakh Daughters" im Martinipark.

Die große Bühne wird beim Brechtfestival auch bespielt: Auftritt der "Dakh Daughters" im Martinipark.

(Foto: Jan-Pieter Fuhr)

Freilich: Das reicht nicht, für ein Festival. Deswegen gibt es in Lechhausen auch andere Stationen, eine Saunalandschaft oder die "Projektschmiede", ein Mietatelier, in dem die Gruppe "God's Entertainment" den Brecht-Teppich gewebt hat und ihn dort nun als Teil einer sehenswerten Installation zeigt. Der zwanglose Ort hat sich schon zu einem Treffpunkt entwickelt.

Und natürlich gibt es auch bei Warner die großen Veranstaltungen. Eine ist der Auftritt der ukrainischen Frauenband Dakh Daughters am Sonntagabend im Martinipark, der großen Spielstätte des Staatstheaters. Vor fast ausverkauften Rängen spielt das Ensemble ein Programm, das den Krieg thematisiert. Da ist Dakh Daughters auch nicht zimperlich, Kriegsbilder werden projiziert mit Bombenexplosionen, verletzten Kindern, Menschen auf der Flucht, das Hakenkreuz wird parallel zum Z-Symbol gezeigt.

Das Brechtfestival gibt all dem Raum - und vor allem den Menschen darin. Sollte das bis zum Ende funktionieren, wächst da nicht nur Neues, sondern Großes.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusKultur
:"Ey, was macht ihr denn hier?"

Julian Warner leitet zum ersten Mal das Augsburger Brechtfestival. Warum er die Kulturveranstaltung an den Stadtrand verlegt und was das mit Döner und Bier zu tun hat.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: