Auftritt in Tutzing:Thilo Sarrazin - oder wie man sein Saatgut aufisst

Gehört der Islam zu Deutschland? Thilo Sarrazin diskutiert in der Tutzinger Akademie - und der Kosmos der heiligen Zahlen konkurriert mit dem Kosmos der Moral.

M. Drobinski

Es kann losgehen. Der Eine hat das Kreuz durchgedrückt, die Arme zum Schutz vor der Brust verschränkt, fixiert die Kassettendecke des getäfelten Saals. Der Andere hat die Ellbogen aufgestützt, aus grauer Lockenmähne hervor blinzelt er über die Brille hinweg; den einen strafft der Anzug, den anderen umhüllt das Wolljackett. Der Schnauzer immerhin eint sie, seehundartig aufgeworfen zwischen Nase und Lippen.

Tutzing: 'Gehoert der Islam zu Deutschland ?' - Tagung mit Thilo Sarrazin

Auch er gehört zu Deutschland: Thilo Sarrazin am Samstag bei der Frühjahrstagung der Akademie Tutzing am Starnberger See

(Foto: Johannes Simon)

Thilo Sarrazin, der Buchautor, gewesene Berliner Finanzsenator und Ex-Bundesbanker, trifft auf Johano Strasser, den Präsidenten des Schriftstellerverbandes PEN.

Hans Eichel, der ehemalige Finanzminister und jetzige Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing, passt auf die Debatte auf. Wenn man sie da so sitzen sieht, den 66-jährigen Sarrazin, den 69-jährigen Eichel, den 71-jährigen Strasser, dann fährt einem durch den Kopf, dass an diesem kalten Märzwochenende am bleiernen Starnberger See nicht nur die Frage behandelt wird, ob der Islam zu Deutschland gehört, sondern auch die Geschichte der Sozialdemokratie nach 1968.

Es hat Proteste gegen die Einladung an Thilo Sarrazin gegeben. Man dürfe ihn nach seinem sozialdarwinistischen Erfolgsbuch "Deutschland schafft sich ab" nicht aufwerten, hieß es. Zudem gab es schlechte Erfahrungen mit Sarrazin-Diskussionen, bei denen empörte Kritiker ihm beizukommen suchten, Sarrazin maschinenhaft wiederholte, der Andere habe sein Buch nicht verstanden und im Publikum die Wutbürger ihrem Namen alle Ehre machten. Auch in Starnberg sind sie wieder da, haben früh Plätze in der Nähe der Mikrofone reserviert. Die anderen reden unsicher: "Haben Sie schon mal einen Türken eingeladen?" "Nein, aber neulich waren wir in Istanbul."

"Wo, wenn nicht hier, kann die Debatte geführt werden?" hat Hans Eichel am Freitagabend die Einladung an Sarrazin verteidigt und die Freiheit der Akademie ins Feld geführt. Ein leises Interesse an öffentlicher Aufmerksamkeit mag auch seine Rolle gespielt haben, so tritt am Samstagmorgen um neun Thilo Sarrazin mit immer noch verschränkten Armen ans Pult. Er habe ja gar kein Buch über die Muslime schreiben wollen, sagt er, sondern eins über den Sozialstaat mit dem Arbeitstitel "Wir essen unser Saatgut auf", um Zuwanderer gehe es erst "ab Seite 256".

Kosmos der heiligen Zahlen

Er stellt noch einmal seine Thesen von der "drohenden Selbstabschaffung Deutschlands" vor: In Deutschland würden zu wenig Kinder, vor allem zu wenig Akademikerkinder geboren. Das "innovative Potenzial" werde in den kommenden Jahren noch stärker sinken als die Bevölkerung. Die Zuwanderung von Muslimen verschärfe die Probleme: Überall in der Welt hätten Muslime Bildungs- und Integrationsdefizite; "unfehlbar" gehörten Muslime zu den "unteren Schichten der Bevölkerung", Demokratie, Frauenrechte oder Friedfertigkeit seien ihre Sache nicht.

Es ist der Unfehlbarkeitsanspruch von Sarrazins Statistik und Prognose, den Sarrazins Fans bewundern und der seine Gegner empört, das Mechanistische des Sozialingenieurs. Dagegen redet nun Strasser. Das "trostlose Menschenbild" sei das Skandalöse des Buches, sagt er und hebt die Stimme; die soziale Kälte, die Vergötterung der Mendelschen Erblehre, die Heiligung der Prognose, das "Phantasiekollektiv der Muslime", das Sarrazin konstruiere, dies alles sei "für unsere Zivilisation, für unsere Demokratie unerträglich."

Kurz nach zehn ist es, da steht der Kosmos der heiligen Zahlen neben dem Kosmos der Moral, steht Sarrazins düstere Vision vom Untergang neben Strassers Sozialoptimismus, es wäre nun an der Zeit, dass die Debatte entgleiste. Schon unterbrechen Zwischenrufer im Anzug Strasser: Das Abendland muss offenbar mit Krawall gegen die muslimische Invasion verteidigt werden.

Wenig Toleranz gegenüber Muslimen

Doch der Tumult bleibt aus in Tutzing. Zum einen, weil es eine eigentümlich vertraute Duzkultur zwischen den Kontrahenten gibt: Weißt Du noch, damals, 1978, in der Grundwertekommission? Manchmal lächelt da Thilo Sarrazin in ferner Erinnerung. Und dann wird es ruhig, weil Hans Eichel sich scharf Zwischenrufe und Hohn verbittet. Es wirkt. Wer an diesem Samstag an den Starnberger See gekommen ist, um "den Muslimen" ordentlich einzuheizen, hat falsch investiert.

Es sollte keine reine Sarrazin-Debatte werden in Tutzing, und so hat die Akademie an diesem Wochenende ein Programm gebaut, das so ziemlich alles beleuchtet, was in der Islam- und Integrationsdebatte aktuell ist. Am Freitagabend präsentieren der Münsteraner Soziologe Detlef Pollack und sein Münchner Kollege Holger Liljeberg Zahlen: Zwei Drittel der Deutschen haben Vorbehalte gegenüber Muslimen, nur ein Drittel befürwortet den Bau von Moscheen, in keinem europäischen Land gibt es so wenig Toleranz gegenüber Muslimen wie in Deutschland. Vor allem die Türkisch-Stämmigen im Land fühlen sich andererseits noch sehr ihrer alten Heimat verbunden, schwanken in den Identitäten, fühlen sich abgelehnt.

Seit Sarrazins Buch auf dem Markt ist, hat die Ablehnung der Muslime zugenommen, sagt Pollack - Sarrazin sitzt da und hört zu.

Am Samstag sagt dann der Penzberger Imam Benjamin Idriz, dass er sich für einen toleranten, friedfertigen, demokratieverträglichen Islam einsetze. Dann redet der Publizist Henryk M. Broder so lustig, dass niemand seine These so recht mitkriegt: Weil die Deutschen den Holocaust endlich wegbewältigen wollen, trauen sie sich nicht, die Muslime hart anzupacken - lieber bezeichnen sie jeden Islamkritiker als Rassisten und finanzierten eine sich selbst vermehrende Armee von Sozialarbeitern.

Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, plädiert für eine unaufgeregte Debatte - und da Schneider ein unaufgeregter Mensch ist, trägt auch er zur Beruhigung bei.

Buschkowsky wirbt für Kindergartenpflicht

Nur ein richtiger Dialog entsteht nicht, es reihen sich die Wahrheiten, die Idrizsche, Brodersche, Schneidersche. Es kommt die Wahrheit von Lale Agkün dazu, der ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten, die für einen säkularprotestantischen Islam wirbt, der Gebete, Fasten, Kopftuch, alle Regeln als Möglichkeiten des persönlichen Glaubenslebens, nicht aber als kollektive Gebote ansieht.

Und dann die von Heinz Buschkowsky, dem SPD-Bürgermeister von Berlin-Neukölln, der von Schulen berichtet, bei denen keiner der Schüler mehr Eltern mit regulärer Arbeit hat, und sagt: Es braucht Krippen, eine Kindergartenpflicht "am besten ab einem Jahr", Ganztagsschulen wie die Rütli-Schule, die inzwischen eine Vorzeige-Einrichtung ist.

Am Ende des Tages lässt Vural Öger, Reiseunternehmer, durchblicken, wie sehr ihn das Buch von Sarrazin verletzt hat. Die Rechtsanwältin Nevon Van aus Izmir erzählt, wie viele gut ausgebildete Türkischstämmige zurück in die Türkei gehen, weil sie sich abgelehnt fühlen.

Und ja: Auch in Tutzing durften sich die Muslime, die den Tag mit Thilo Sarrazin teilten, vor allem als Problem fühlen.

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