Auf den Spuren des Abwassers:Ein Besuch im Kanalsystem

Lesezeit: 4 min

Die Kosten der Abwasserentsorgung steigen. (Foto: Robert Haas)
  • 2400 Kilometer Kanäle gibt es in der Stadt, ungefähr 75 000 Gullis. Das erfährt man bei einer Führung der Stadtentwässerung durch das Münchner Kanalsystem.
  • Dabei stößt man auch auf einige kuriose Überbleibsel aus der Vergangenheit.
  • München hinkte seiner Zeit hinterher, was die Entwicklung eines Abwassersystems anging - selbst im Vergleich zum Mittelalter.

Von Viktoria Spinrad

Die schwarzen, angerosteten Klappen des Tors zur Münchner Unterwelt liegen gleich an der Alten Heide. Zwanzig Gestalten in Regenjacken schielen auf den Abgrund: Hierdurch soll die Gruppe gleich abtauchen zu einer Führung durch das Kanalsystem mit Bernhard Böhm, dem Betriebsleiter der Münchner Stadtentwässerung.

Der Anlass: "Die öffentliche Wahrnehmung des Münchner Abwassersystems ist verbesserungswürdig", sagt Böhm. Was er damit meint: Die Menschen verstünden nicht, wofür sie überhaupt eine Abwassergebühr zahlen. "Die persönliche Wahrnehmung endet am Siphon des Waschbeckens oder an der Mündung der Toilettenschüssel in die Wand", sagt der Experte. Die Führung soll etwas Licht ins Dunkel bringen.

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Böhm, einer schmaler Mann in Anzug, mit Krawatte und Signaljacke, gestikuliert nach rechts, wo die viel befahrene Ungererstraße verläuft. Er warnt: "Sie werden unten merken, da scheppert's, ganz normal". Schon geht es im Entenmarsch die modrigen Treppen hinunter. "Jetzt gehen wir schwimmen", flüstert ein älterer Herr mit Sonnenbrille, was natürlich ein Witz ist, da der Kanal seit 20 Jahren still liegt. Scheinbar sind vor 20 Jahren aber einige Mobilfunkgeräte schwimmen gegangen, noch vor der ersten Stufe steht eine Kiste mit ausgedienten Nokias, darauf ein Gebiss. Unten dann scheppert es wirklich - wegen der Autos, die oben vorbeirauschen.

Heute hat der etwa zwei Kilometer lange Abwasserkanal, der an der Münchner Freiheit anfängt und dann unter der Unger- und Freisinger Landstraße entlang ins Klärwerk Gut Großlappen mündete, nur noch eine symbolische Funktion. Vor 20 Jahren wurde er für einen neuen Kanal ausrangiert, aus dem heute nur noch bei extremem Niederschlag vorgereinigtes Abwasser in die Isar fließt. Dennoch ist der Kanal in seiner Höhe von 4,50 Metern ein Paradebeispiel für eine echte zivilisatorische Errungenschaft: das Münchner Schwemmkanalsystem, ein flexibles Geflecht aus 2400 Kilometern Kanälen.

In denen fließt Schmutzwasser aus Münchner Haushalten und der Industrie in Richtung der Klärwerke im Norden, jede Sekunde kommen dort selbst bei trockener Witterung pro Sekunde 4600 Liter Wasser an. Zumeist fließt in den Kanälen zusätzlich noch das Niederschlagswasser, das durch die ungefähr 75 000 Gullis der Stadt hinabgeschwemmt wird. "Wenn man Regen- und Schmutzwasser trennen wollen würde, müsste man in München in jeder Straße einen zweiten Kanal bauen", so Böhm - quasi eine zweite Stammstrecke für Abwasser.

Pro Tag verbraucht jeder Münchner im Schnitt 128 Liter Wasser. "Keine Selbstverständlichkeit" sei die reibungslose Bewältigung der täglichen Wassermengen, betont Böhm. Die Schwemmkanäle seien heute ein Garant für Komfort und Gesundheit: Kein Münchner muss wie früher seinen Stuhlgang in Tonnen sammeln oder wie im 19. Jahrhundert an Infektionskrankheiten wie Typhus oder Cholera sterben, die durch Keime entstehen können.

Kanalarbeiter Manfred Kaltenberger kennt das Münchner Kanalsystem seit den Siebzigern. (Foto: Robert Haas)

Hier unten ist es fast angenehm kühl, der Gestank einer vergangenen Zeit wabert nur leicht durch die Luft. Gelbe, vergitterte Leuchten werfen Schatten auf die Backsteingemäuer. "München hinkte seiner Zeit damals ziemlich hinterher", erzählt Böhm von der Zeit, als Max von Pettenkofer das Abwassersystem in München modernisierte. Selbst im Vergleich zum Mittelalter hätten die Zustände im 19. Jahrhundert einem "kulturellen Rückfall" geglichen.

Es gab Fäkaltonnen oder die Leute spülten ihren Schmutz einfach in den Fluss, vor 200 Jahren brauchten es viel Überzeugungsarbeit, um die Münchner von diesem Umgang mit ihrem Abwasser abzubringen. Während Hamburger, Stuttgarter und Danziger schon eine zentrale Trinkwasserversorgung und Entledigung hatten, ging im knapp 200 000 Einwohner starken München ein politisches Tauziehen vonstatten. Einige Vereine und der Großteil der Bevölkerung wollten ein flächendeckendes Tonnensystem, sie grausten sich eher vor den Kosten eines Kanalsystems, das nach mehreren Anläufen im Oktober 1881 doch kam.

"Sehr vorausschauend" sei der zuständige englische Ingenieur James Gordon gewesen, lobt Böhm, denn dieser bündelte die verschiedenen Kanäle entlang der Straßen in Richtung eines potenziellen Klärwerks im Norden - dort, wo heute das Klärwerk Gut Großlappen steht.

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Dort wird das Wasser gereinigt und hin bis zur Badegewässerqualität aufbereitet, die Mischkanäle dienen dabei als schnelle, effektive Zubringerröhren. In Richtung des Klärwerks zeigt auch ein Pfeil auf dem Backstein, und der Kanal offenbart die ein oder andere kuriosen Überbleibsel aus der Vergangenheit, wie den "Spülhunt", der schon seit vielen Jahren nicht mehr im Einsatz ist.

Solche kleinen Geräte aus Platten und Rädchen schwammen früher mit dem Abwasser durch den Schacht und fingen Ablagerungen ein. Heute geht es deutlich digitaler zu. Was hängen bleibt, wird mittels Hochdruckspülern entfernt, der Bedarf dafür lässt sich auch mit Kameras ermitteln, die an einem verlängerten Stiel in die kleineren Tunnel eingeführt werden. Mitarbeiter der Stadtentwässerung reinigen auch händisch mit Saugschläuchen und Eimern, mehrere Tonnen an Überbleibseln wie Ablagerungen, Sand, Kies und Plastik entfernen sie so Jahr um Jahr aus den Münchner Kanälen.

"In allererster Linie produzieren wir mit dem System sauberes Wasser", sagt Böhm. Eine Selbstverständlichkeit für den Bewohner eines entwickelten Landes, in den Worten des Betriebsleiters aber "totaler Komfort", wenn mit ein Mal Spülen alles in der Toilette verschwindet oder aus dem Hahn Wasser fließt, das der Münchner bedenkenlos trinken kann.

Betriebsleiter Bernhard Böhm erklärt bei einer Führung die Geschichte der Kanäle. (Foto: Robert Haas)

Kaum jemand aber nimmt diese ganz eigene Welt in Münchens Untergrund wahr, auch nicht den Teil des Ersatzkanals an der Schenkendorfstraße, zehn Minuten Fußmarsch von dem Kanaleingang an der Alten Heide entfernt. Die Gruppe steht im Halbdunkel des gigantischen Regenüberlaufbeckens hier, dessen säuerlicher Geruch nun alle Erwartungen an einen Abwasserkanal erfüllt. Der feuchte Boden ist zerlöchert, von der hohen, fädenbehangenen Decke tropft es. Graue Säulen ziehen sich bis zum Raumende, den man überhaupt nur sieht, weil von dort ein einzelnes gelbes Licht scheint.

Wäre das Becken gefüllt, man könnte hier schwimmen, es ist größer als ein Fußballfeld und kann so viel Wasser halten wie 100 000 gefüllte Badewannen. "Wenn das Wasser vom Kanal nebenan jetzt rübergeschwappt käme, müssten wir schon auf die Treppe rauf", sagt Böhm. Das Becken funktioniert wie eine "Reinigung light", hier können sich Klopapier und Fäkalien absetzen. Probleme bereiten bloß zivilisatorische Errungenschaften wie feuchtes Klopapier, Mikroplastik aus Hautpeelings und Fleece, das löse sich beim Waschen ab, sagt Böhm.

Die wirkliche Herausforderung sind seiner Ansicht nach aber nicht die Entsorgungen der Münchner - es ist der Klimawandel: "Für vermehrte Stark- oder gar Jahrhundertregen ist kein Kanal der Welt angelegt. Wir haben zurzeit einen tollen Entwässerungskomfort hier in München. Aber es ist falsch zu glauben: Die Stadtentwässerung macht das schon." Es ist viel Arbeit, das Kanalsystem in Schuss zu halten und auf die Anforderungen der Zukunft auszurichten. Ein Selbstläufer ist sie also tatsächlich nicht, die Münchner Unterwelt.

© SZ vom 25.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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