Kneipe Maxvorstadt "Atzinger":Unter Denkern

Auch nach dem Pächterwechsel bleibt der Atzinger, was er immer war. Eine Studentenkneipe mit Vergangenheit: Hier soll schon Joseph Ratzinger Leberkäse gegessen haben.

Christina Warta

Längst hätte man sich für dieses Referat über Gottfried Keller mit den anderen Studienkollegen der Neueren Deutschen Literatur zusammensetzen müssen, längst eine Gliederung erarbeiten. Doch wie das eben so war zu Studentenzeiten: Man hatte immer zu wenig Zeit. Dann blieben plötzlich nur noch drei Tage für die Vorbereitung, es galt höchste Referats-Alarmstufe. Man verabredete sich eilig: Um fünf, mit allen Büchern! "Und wo?", fragte der Kommilitone. "Ja, im Atzinger halt." In der Kneipe an der Ecke Schelling- und Amalienstraße waren die Tische groß genug für Bücher und Schreibblöcke, die Apfelschorle war günstig, das Licht nicht zu hell.

Kneipe Maxvorstadt "Atzinger": Hier vertrödeln Studenten gerne ihre Zeit zwischen den Vorlesungen: im Atzinger in der Maxvorstadt.

Hier vertrödeln Studenten gerne ihre Zeit zwischen den Vorlesungen: im Atzinger in der Maxvorstadt.

(Foto: Stephan Rumpf)

Viele Jahre später kommt man wieder her. Und gleich links beim Eingang sitzen zwei Studentinnen. Auf dem Tisch liegen aufgeschlagene Bücher übereinander, zwei große Gläser Apfelschorle stehen daneben. Die beiden schauen höchst konzentriert in die Literatur. Vermutlich höchste Referats-Alarmstufe. Der Atzinger war eine Studentenkneipe, und er ist es geblieben - auch nach der umfangreichen Renovierung vor knapp drei Jahren. "Jeder dachte, wir machen aus dem Atzinger ein gesichtsloses Café", sagt Wirt Vassilios Galanopoulos. "Aber das ist für uns nicht in Frage gekommen. Wir wollten unbedingt bei einer bayerischen Wirtschaft bleiben."

Das Haus an der Ecke Schelling- und Amalienstraße ist historisches Gemäuer, ein Baudenkmal: 1853 wird es für den Schreinermeister Johann Sauermann erbaut. Damals werden die späteren Gasträume im Erdgeschoss noch als Wohnung genutzt. 1925 zieht die erste Gaststätte ein, zunächst nur an der Schellingstraße. Erst später wird das Lokal um die Ladenräume an der Amalienstraße erweitert, so entsteht auch der verwinkelte Charakter des Atzinger - barrierefrei war die Wirtschaft mit ihren Stufen und Ecken seinerzeit nicht gerade.

1975 steht der Atzinger und mit ihm das ganze Gebäude vor dem Aus: Es soll abgerissen werden. Die Genehmigung dafür liegt sogar schon vor, doch der Abriss unterbleibt. Stattdessen wird von 2000 an saniert und instand gesetzt. Die Obergeschosse werden seit vielen Jahren von der Universität genutzt, der das Gebäude auch gehört. Und Generationen von Studenten sind es auch, die den Atzinger - so hieß übrigens der erste Wirt - zum Erfolg verhelfen. Hier vertrödeln sie die Zeit zwischen zwei Vorlesungen oder gleich die Vorlesungen selbst. Hier wird bei Bier und Zigaretten die sozialistische Weltrevolution diskutiert. Hier treffen sich Schwabinger Maler zum Stammtisch, die die Bedienungen ohne Hüllen in ihren Werken verewigen, hier gründet sich im Jahr 1958 die Künstlergruppe "Spur". Und hier wird der leere Studentenmagen mit günstigem Essen ruhiggestellt: mit Schinkennudeln oder einer großen Currywurst. Angeblich kam seinerzeit sogar Joseph Ratzinger für einen Leberkäse in den Atzinger.

Die Schinkennudeln gibt es auch heute noch, sie kommen mit einem Salat und kosten 7,80 Euro. Manche finden das zu teuer, doch Vassilios Galanopoulos widerspricht: "Wir haben die Preise durchaus der Umgebung angepasst. Uns sind die Studenten als Gäste sehr wichtig."

Vor vier Jahren starb Wirt Georg Dorner mit 56 Jahren, ein Jahr später eröffnete seine Frau Gabriele den schockierten Stammgästen, dass sie die Gaststätte nicht mehr weiterführen werde. Tische und Stühle, Lampen und Bilder des Kultlokals wurden an melancholisch gestimmte Atzinger-Fans verkauft. Kurz darauf gibt der Pächter, die Löwenbräu-Brauerei, bekannt, dass Galanopoulos der neue Atzinger-Wirt sein soll. Außerdem wird renoviert: An den nikotingeschwängerten Wänden macht sich ein Kirchenmaler zu schaffen, der die historisch richtigen Farben rekonstruiert. "Stuck, Verkleidung, sogar die Wandhaken: Alles haben wir so belassen, wie es war", sagt Galanopoulos. Die Wand zum unteren Gastraum wird eingerissen, seither wirkt der Atzinger nicht mehr verwinkelt, sondern großzügig. Durch die neuen Tische und Stühle wirkt die Gastwirtschaft schicker als vor dem Umbau. Nostalgiker trauern der verschwundenen Patina nach, doch die meisten Studenten kümmert das nicht. Neuerdings können sie sogar im Biergarten im Innenhof ihre Referate erarbeiten. Und Frischluft fördert schließlich das Denken.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: