Psychiatrie:Ein Lächeln für die kranke Seele

Gabriele Schleuning

In ihrer Altbauwohnung in der Au erzählt Gabriele Schleuning vom Wandel, den die Psychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat, und von der Entstehung des Atriumhauses.

(Foto: Corinna Guthknecht)

Mit Fröhlichkeit, Offenheit und Dickköpfigkeit wurde Gabriele Schleuning Chefärztin des Atriumhauses. Ihre psychiatrische Klinik ist mehr Hotel als Krankenhaus.

Von Karl Forster

"Es gibt keine größere Macht als die Macht des Lachens", sagte einmal der britische Journalist und Aphoristiker Hugh Greene. Wenn man also das Lachen als mächtige Waffe sieht, ihm noch Fröhlichkeit, Offenheit und Dickköpfigkeit beifügt, hat man ungefähr jenes Arsenal beisammen, mit dem Gabriele Schleuning es erstens zur Chefärztin gebracht und zweitens München aus der Düsternis der Nachkriegspsychiatrie in die Nähe eines paradiesischen Zustands gebracht hat.

Zumindest in ihrem Wirkungskreis, dem Atriumhaus an der Bavariastraße, einer psychiatrischen Krisen-Institution in Münchens Innenstadt. Ohne Gabriele Schleuning hätte es dieses Haus und damit eine bedeutsame Wandlung dieser medizinischen Disziplin ins Heute nicht gegeben. Vor einem Jahr begab sich Gabriele Schleuning nun in den Ruhestand, sie hat mit ihrer Kollegin Susanne Menzel ein Buch geschrieben über dieses Atriumhaus. Es hat den charmant zweideutigen Titel "Ins Leben verrückt". Am Donnerstag und Freitag lesen die Autorinnen daraus um 20 Uhr im Münchner Rationaltheater.

Von wegen also Ruhestand. Ruhig zu sitzen und zu warten, was Gegenwart oder Zukunft bringen, war wohl noch nie die Sache von Gabriele Schleuning. Das brachte die widerborstige Schülerin schon während der Gymnasialzeit in Prien am Chiemsee zu der Erkenntnis: "Wenn du schon einen eigenen Kopf hast, musst du lauter Einser haben, sonst bekommst du ein Problem." Das mit den Einsern schien kein Problem gewesen zu sein, und Gabrieles Eltern - Vater Masseur, Mutter Fußpflegerin in der familiären Praxis - hätten also allen Grund gehabt, ihrer Freude über das prächtig gedeihende Kind Ausdruck zu verleihen. Aber da war die kleine Schwester Angelika "mit ihren Kulleraugen", die die elterlichen Herzen okkupiert hatte.

"Ich war zwar die Gescheitere, aber auch die Bösere", sagt Gabriele Schleuning, damals noch Beier. Und sie erwähnt, dass sie damals ihre kleine Schwester "so was von dick gehabt" habe; fügt aber lachend hinzu, diese kleine Schwester sei erstens zu einer hervorragenden Kabarettistin gereift, natürlich kennt man Angelika Beier, und dass sie zweitens demnächst mit ihr im Duo die Kabarettbühnen Deutschlands zu erobern hoffe. Gabriele Schleuning wird somit wohl als Deutschlands erste Chefärztin auf einer Kleinkunstbühne stehen und dabei aus dem beruflichen Erfahrungsschatz sicher einiges beizutragen wissen.

Sie wollte ja immer schon Psychiaterin werden, schon während der Schulzeit. Nicht nur, weil sie ein Faible hatte (und hat) für Menschen mit besonderen seelischen Ausprägungen, die für sie auch jenseits der gesellschaftlichen Normen einen ganz besonderen Charme haben; sondern auch, weil sie ganz offenbar Menschen mit seelischen Problemen irgendwie anzieht. Und meint dazu mit größter Fröhlichkeit, dass, schürfe man in ihrer Seele etwas tiefer, man sicher auch "ein paar Dispositionen für Psychosen" fände. Schließlich sagt ja schon die Statistik, dass jeder dritte Mensch in seinem Leben irgendwann mit einer psychiatrischen Diagnose konfrontiert werde und jeder zweite gar eine Veranlagung zur seelischen Läsion in sich trage.

Psychiaterin wollte sie also werden. Als sie erfuhr, dass man dazu Medizin studieren müsse, war sie wenig erfreut. "Galle, Magen, Darm, das interessierte mich überhaupt nicht, das war der Horror!" Also zog sie, wie schon das Gymnasium, auch das Studium achselzuckend durch und verschwendete jede Menge Restkräfte an das Engagement bei den Leuten vom KSV, dem studentischen Kommunisten-Ableger der KPD, machte schwer auf Klassenkampf und verteilte viele Morgen lang vor dem Agfa-Gebäude in Giesing rote Fahnen.

Gabriele Schleunings Berufswunsch, Ärztin für seelische Krisen und Deformationen zu werden, war damals, in den späten Siebzigerjahren, noch die Ausnahme unterm medizinischen Nachwuchs. Und das hat ganz eindeutige und ganz schlimme Gründe. Während des NS-Regimes wurde Deutschlands Psychiatrie zur Todesmaschine. Tausende Patienten wurden in Lagern umgebracht und in den psychiatrischen Anstalten zu Tode gespritzt oder mit Null-Kalorien-Diäten zu Tode gehungert. Dieses Mörderpersonal fand nach Kriegsende sehr oft wieder im angestammten Job seinen Platz, so wie ja auch in der Justiz, in der Verwaltung oder beim Geheimdienst. Das alles war keine rechte Verlockung für den Nachwuchs.

Und so kam es, dass Deutschlands und eben auch Bayerns psychiatrische "Krankenhäuser" bis Ende der Siebzigerjahre und darüber hinaus nur Verwahranstalten waren. Die Studentin Schleuning hat das in diversen Nebenjobs noch erlebt, in der Psychiatrie der LMU an der Nußbaumstraße beispielsweise und natürlich in Haar. "Eine Station, das waren zwei Riesensäle mit 30 sedierten Menschen drin, in der Mitte ein Holzverschlag, das war das Klo, und daneben der Esstisch. Und einmal die Woche hat man die Patienten zum Duschen getrieben."

Doch Gabriele Schleuning lernte schon in einem frühen Semester einen Dozenten kennen und schätzen, der dabei war, Bayerns Psychiatrie heftigst zu entrümpeln: den Psychiater Michael von Cranach, der es später als Chefarzt des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren schaffte, die dortige Bettenzahl von circa 2500 auf ein Zehntel zu senken. Und der schon damals und heute noch daran arbeitet, die Gräuel der Nazis an psychisch kranken Menschen aufzuarbeiten, zuerst in seiner Klinik, heute im NS-Doku-Zentrum. Der Mann gab Gabriele Schleuning die Richtung vor.

"Für den damaligen Direktor von Haar war ich ein rotes Tuch"

Und so kam es, dass (Lächeln, Fröhlichkeit, Dickköpfigkeit) die junge Fachärztin an ihrem damaligen Arbeitsplatz im Bezirkskrankenhaus Haar, das heute "kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost" heißt, Veränderungen provozierte, die letztendlich zu diesem sonderbaren Atriumhaus in Münchens Innenstadt nahe der Theresienwiese führen sollten. "Für den damaligen Direktor von Haar war ich ein rotes Tuch", sagt Schleuning und lacht ihr unbändiges Lachen. Kein Wunder, nutzte sie doch beispielsweise den Urlaub des Chefs, um bei seinem Stellvertreter eine erste Ambulanz für psychisch kranke Patienten im Bezirkskrankenhaus Haar durchzusetzen.

Keine Frage, dass sie mit der Eröffnung des Atriumhauses dort Chefärztin werden sollte. Und ihre Ideen verwirklichen konnte: eine Klinik, die mehr Hotel ist als Krankenhaus, mit Foyer und Rezeption und heimeligen Zimmern, mit großer Ambulanz, mit stationärer Tag- und Nachtabteilung, ohne weiße Kittel ("sind nur dummes Symbol eines dummen Machtbegriffs"), mit einer Verweildauer von maximal zehn Tagen, und - als Wichtigstes - 365 Tage und 24 Stunden offen für alle Patienten, die in einer seelischen Krise stecken, egal ob chronisch krank und, wie es im Fachjargon so apart heißt, "nicht wartezimmerfähig", oder, weit häufiger, bis dato ohne Befund und Störung. "Bei uns ist jeder willkommen", das ist eine der Grundregeln, mit der Gabriele Schleuning die Revolution der Psychiatrie mit prägte.

Zwar griff in diesen Achtzigerjahren auch schon in Haar die eine oder andere durch die bundesweit gültige Psychiatriereform angestoßene Neuerung. Aber Haar liegt nun mal am äußersten Rand der Großstadt und hatte damals ein Einzugsgebiet mit einem Radius von mehr als einhundert Kilometern. Gabriele Schleuning hat längst die Cranach'sche Direktive verinnerlicht: Die Psychiatrie muss raus aus der Isolation, zu den Menschen, zum sozialen Umfeld der Kranken. Sie muss, so das aktuelle Stichwort: gemeindenah sein.

Das galt eben auch für München. Und so fand Gabriele Schleuning zur Verwirklichung ihrer Idee einerseits eine kleine, aber schlagkräftige Lobby bei einsichtigen Politikern und im Management der AOK, erlebte aber andererseits massiven Gegenwind aus der etablierten psychiatrischen Ärzteschaft, der sich in dem Satz manifestierte: Lasst die nur mal machen, das wird sowieso nichts.

Es wurde. Und es wurde "für mich der Himmel auf Erden, was die Arbeit in der Psychiatrie angeht", sagt Gabriele Schleuning heute am Küchentisch ihrer luftig hellen Altbauwohnung in der Au. Sie hat immer noch ein Faible für große Brillen, das dunkelblonde Haar fällt weit über die dreiteilige Halskette, sie erzählt begeistert von den beiden Töchtern und deren Kindern, vom wunderschönen Heimathaus in Prien, davon, dass sie jetzt Gitarre spielen lernt und vor allem, wie sehr sie sich auf die Lesung dieses Buches über das Atriumhaus freue. "Sie kommen doch, oder?" Wie sollte man diesem Lächeln widerstehen.

"Ins Leben verrückt", Lesung mit Gabriele Schleuning und Susanne Menzel, Rationaltheater, Donnerstag und Freitag, 4., 5. April, 20 Uhr

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