Verteilsystem für Flüchtlinge:Sendeschluss: 20 Uhr

Flüchtlinge am Hauptbahnhof in München, 2015

Derzeit kommen nur wenige Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an - im Sommer letzten Jahres war dies noch anders, wie dieses Foto zeigt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)
  • Um 20 Uhr wird jeden Abend das bundesweite Sytem für die "Erstverteilung von Asylbegehrenden" abgeschaltet.
  • Während der Nacht kann daher kein Flüchtling, der in München ankommt, weiterverteilt werden - das führt zu hundertfachen Rückstaus.
  • Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) hält es für "total verrückt", dass ein solches Computersystem ausgeschaltet wird.

Von Inga Rahmsdorf

Vor dem Ankunftszentrum in Freimann stehen einige Männer, die aus Syrien geflohen sind. Diese Nacht werden sie hier in Zelten schlafen. Ob sie in München bleiben? Ob und wann sie an einen anderen Ort geschickt werden? Das wissen sie nicht. Denn auch wenn die Mitarbeiter der Regierung von Oberbayern 24 Stunden im Einsatz sind, nach 20 Uhr können sie die Flüchtlinge nicht mehr registrieren und herausfinden, welche Erstaufnahmeeinrichtung in Deutschland für sie zuständig ist. Weil das dafür notwendige Computerprogramm abgeschaltet wird.

Um 20 Uhr ist bundesweit Feierabend im Netz beim Easy-System (Erstverteilung von Asylbegehrenden). Das führe in München "jede Nacht zu neuen hundertfachen Rückstaus", sagt Christoph Hillenbrand, Oberbayerns Regierungspräsident. 20 Prozent aller Asylsuchenden bundesweit kommen zunächst in München an, mehr als die Hälfte von ihnen wird dann an andere Bundesländer weitergeleitet. Ein Großteil von ihnen erreicht die Landeshauptstadt aber in den Abendstunden.

Warum wird das Programm abgeschaltet?

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) hält das für "total verrückt" und für "an Skurrilität nicht mehr zu überbieten", dass die Bundesländer es sich angesichts der nationalen Herausforderung nicht leisten können, das Easy-System 24 Stunden laufen zu lassen. Das fordert auch Bayerns Sozialministerin Emilia Müller (CSU) seit Langem. Die Flüchtlinge könnten schneller weitergeleitet werden, sagt Simone Hilgers, Sprecherin der Regierung von Oberbayern. Sie könnten auch nachts schon erfahren, welche Erstaufnahmeeinrichtung für sie zuständig ist. Das würde zudem die Abläufe im Münchner Hauptbahnhof und dem Ankunftszentrum in Freimann erleichtern. Aber warum wird das IT-Programm überhaupt abgeschaltet?

Eine Frage, die nicht so schwer zu beantworten sein sollte - könnte man denken. Doch wer sich auf die Suche nach der Antwort begibt, der stößt schnell auf ein ziemlich undurchsichtiges Gewirr von Zuständigkeiten, die zeigen, wie kompliziert föderale Interessen die Asylpolitik manchmal machen. Mitte August lief das Easy-System einige Tage lang bis 24 Uhr, dann wurden die verlängerten Öffnungszeiten plötzlich wieder rückgängig gemacht. Kundige berichten, es habe eine Abstimmung gegeben, bei der sich eine Mehrheit von zehn Bundesländern gegen die Ausweitung ausgesprochen hätten. Mit welcher Begründung?

Das bayerische Sozialministerium verweist an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), das zuständig ist für das Easy-System. Die Zeiten von 6 bis 20 Uhr seien auf "gemeinsamen Wunsch der Bundesländer" eingeführt worden, so Bamf-Sprecher Christoph Sander. "Systemtechnisch ist es jedoch von Seiten des Bundesamtes durchaus möglich, einen 24-Stunden-Betrieb zu gewährleisten." Technische Mehrkosten entstünden nicht, nur eventuell Personalkosten auf Seiten der Länder für einen Schichtbetrieb. Aber "das Bundesamt ist nur für den technischen Support zuständig", sagt Sander. Auch beim Bundesinnenministerium, dem das Bamf untersteht, heißt es: Nein, auch von dieser Seite wäre es kein Problem, das System 24 Stunden laufen zu lassen. Aber: Zuständig seien die Länder.

Immerhin läuft das System am Wochenende

Doch die sind sich offenkundig uneins, und das geht auf Kosten Münchens. Vor einem Jahr zum Beispiel lief das Easy-System nur von Montagfrüh bis Freitagabend, was dazu führte, dass am Wochenende regelmäßig die Bayernkaserne überfüllt war, die damals noch die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge in München war. Nachdem dort im Oktober ein Aufnahmestopp verhängt worden war, wurde das System auch am Wochenende freigeschaltet. Und vor einem Monat musste das neue Ankunftszentrum in Freimann wegen Überfüllung schließen und Zelte aufgebaut werden. Die Mitarbeiter kamen nicht mehr mit der Registrierung und Weiterverteilung hinterher. Das Hauptproblem sei die Abschaltung des Easy-Systems am Abend, betonte da schon die Regierung von Oberbayern immer wieder. Geändert hat sich bisher jedoch nichts. Warum?

In der Berliner Geschäftsstelle der Innenministerkonferenz der Länder wird man an Rheinland-Pfalz verwiesen, das Bundesland, das derzeit den Vorsitz inne hat. Der Sprecher des dort zuständigen Integrationsministeriums, Marius Wendling, sagt: "Wir haben kein Problem damit, dass Easy um 20 Uhr abgeschaltet wird." Und hätten Sie ein Problem damit, es 24 Stunden laufen zu lassen? "Nein, auch nicht." Rheinland-Pfalz stehe der Frage "neutral" gegenüber. Bundesweit kann also niemand eine Antwort geben, bleibt nur die Abfrage aller Länder.

Kein Platz für die üblichen Bürozeiten

Beim Innenministerium in Baden-Württemberg heißt es umständlich: "Als die Frage seinerzeit aufgetaucht ist, haben wir gesagt, wir können es uns vorstellen." Seinerzeit? Und wie ist derzeit die Haltung? Easy sei aktuell kein Thema. In Hamburg äußert ein Sprecher der Behörde für Inneres zwar Verständnis für die Forderung Bayerns, der "Meinungsbildungsprozess" sei dazu aber "noch nicht abgeschlossen". Die Pressestelle des Innenministeriums in Sachsen-Anhalt sieht sich nicht in der Lage, die Frage innerhalb von 24 Stunden zu beantworten. In Sachsen heißt es, der Freistaat werde sich an einer Ausweitung rund um die Uhr beteiligen, "wenn dies auch alle anderen Bundesländer tun". Sechs Bundesländer melden sich auf die Anfrage der SZ überhaupt nicht zurück.

Eine klare Haltung nehmen nur Schleswig-Holstein, Brandenburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern ein. Sie hätten sich für einen 24-Stunden-Betrieb ausgesprochen. "Die Aufnahme der hohen Zahl von Asylsuchenden kann schon lange nicht mehr in den üblichen Bürozeiten abgearbeitet werden", sagt die Sprecherin des Innenministeriums von Brandenburg. Am deutlichsten wird Staatssekretär Ralph Müller-Beck (SPD) aus Schleswig-Holstein: Es sei wichtig, schnelle Verwaltungsprozesse sicherzustellen. Und es sei völlig absurd, dass Easy nicht 24 Stunden laufe, sagt er. "Das wäre ja, wie wenn man eine Notrufzentrale um 20 Uhr ausschaltet - das ist ja total bekloppt." Er gehe aber davon aus, dass nächste Woche die Länder entscheiden, Easy auf einen 24-Stunden-Betrieb auszuweiten.

Wohin Asylbewerber kommen

Derzeit kommen täglich im Durchschnitt fast 800 Asylbewerber in München an - etwa die Hälfte von ihnen abends nach 19 Uhr. Seit Jahresbeginn waren es insgesamt 74 000 Flüchtlinge. Mehr als die Hälfte von ihnen bleiben allerdings nicht in der Stadt, sondern werden an andere Bundesländer weiterverwiesen. Diejenigen, die zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung in München bleiben, werden dann auf Anschlussunterbringungen in ganz Südbayern verteilt (in München in Gemeinschaftsunterkünften). Dafür müssen die Flüchtlinge aber als erstes mithilfe des Computersystems Easy registriert werden. Das geschieht im Ankunftszentrum, das die Regierung von Oberbayern im Juli in Freimann eröffnet hat. Weil das Zentrum aber bereits an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen ist, hat die Regierung auch eine Registrierungsstelle im Hauptbahnhof eingerichtet. Derzeit könnten etwa 150 bis 200 Personen von dort direkt weitergeleitet werden. inra

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