Süddeutsche Zeitung

Asylsuchende:Ärzte im Dauereinsatz für Flüchtlinge

  • Krankenpfleger, Ärzte, Sanitäter - viele von ihnen arbeiten derzeit rund um die Uhr, um Flüchtlingen am Münchner Hauptbahnhof zu helfen. Nachdem der Dienstag ruhig war, kommen aktuell wieder mehr Menschen dort an.
  • Jeder geflüchtete Mensch wird medizinisch untersucht.
  • Sehr geschwächte Flüchtlinge kommen im Klinikum Schwabing unter.

Von Inga Rahmsdorf

Als der kleine Junge mit seiner Familie das Zelt betritt, ist ein schmutziger Verband um sein Gesicht gewickelt. Die Kinderärztin Lena Meier stellt fest, dass der Kiefer des etwa vierjährigen Kindes gebrochen ist und eine Pupille nicht mehr reagiert. Sie ruft den Dolmetscher, er übersetzt, was die Eltern erzählen. Die Familie ist aus Syrien geflohen. Ihr Sohn sei vor vier Tagen in Ungarn vom Auto angefahren worden.

Das Kind muss sofort in die Klinik, ganz dringend, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, sagt die Kinderärztin. Die Eltern bekommen Panik. Nein, auf keinen Fall wollen sie ins Krankenhaus. Sie haben Angst, dass die Familie getrennt wird. Doch die Ärzte in dem Zelt am Münchner Hauptbahnhof können sie beruhigen, die Eltern und Geschwister dürfen mitfahren.

Das sei schon ein besonders schwerer Fall gewesen, sagt die Münchner Kinderärztin Lena Meier, die nicht mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung stehen möchte. Seit Tagen arbeitet sie fast täglich mehrere Stunden in einem der vier weißen Zelte, die zur medizinischen Untersuchung am Hauptbahnhof aufgebaut worden sind.

Viele ehrenamtliche Dolmetscher im Einsatz

Wie derzeit auch viele andere Ärzte, Klinikmitarbeiter oder Sanitäter führt Meier das medizinische Screening bei den neu ankommenden Flüchtlingen durch. Ehrenamtlich, und oft noch vor oder nach ihren regulären Arbeitsschichten in Kliniken oder Praxen sind sie im Einsatz: vom Assistenzarzt bis zum Professor, von Gynäkologen über Anästhesisten bis hin zu Krankenpflegern.

Wenn der Andrang am Bahnhof gerade groß ist, stehen die Flüchtlinge in langen Schlangen vor den Zelten. Meistens dauert die medizinische Untersuchung pro Person nur eine halbe Minute. Ein Blick auf Bauch, Rücken, Hände und Haare, dann noch Fieber messen und die Frage, ob alles in Ordnung sei.

Mittlerweile kennt die Kinderärztin auch die arabischen Wörter für Schmerzen und Juckreiz. "Viele der Menschen sind sehr erschöpft und geschwächt von der langen Flucht, die meisten haben aber keine schweren Krankheiten", sagt Meier.

Notfälle wie das vierjährige Kind werden direkt weiter in Klinken verwiesen, Menschen mit Krätze oder Läusen umgehend in einem besonderen Zelt behandelt, alle anderen werden in die Erstaufnahmeeinrichtungen oder Notunterkünfte gebracht.

Die Arbeit der Ehrenamtlichen gemeinsam mit den Mitarbeitern der Aicher Ambulanz, die für das medizinische Screening am Hauptbahnhof zuständig ist, hätten sich in den vergangenen zwei Wochen sehr gut bewährt, sagt Katrin Zettler, Sprecherin des Gesundheitsreferates. Und auch die Weitervermittlung von Notfällen an die Kliniken funktioniere gut.

Die Situation sei dennoch seltsam, sagt die Kinderärztin Meier. "Die Flüchtlinge erzählen, dass sie Stunden durch Ungarn mit kleinen Kindern gelaufen sind. Oder dass sie drei Tage in einem Zug saßen und gefroren haben, einige Babys sind unterkühlt. Dann kommen sie hier an, werden durch die Zelte geschleust und wir sagen: Please show me your belly."

Trotzdem reagierten die meisten Menschen freundlich und dankbar. Und schließlich sei es auch die Aufgabe der Ärzte, trotz dieser vielleicht etwas peinlichen Prozedur ein Willkommensgefühl und gute Stimmung in den Zelten zu vermitteln, sagt Meier. Und das würde meist auch gelingen.

Wichtig bei den medizinischen Untersuchungen ist auch der Einsatz der ehrenamtlichen Dolmetscher. "Ohne sie wären wir oft aufgeschmissen", sagt die Kinderärztin, wenn die Flüchtlinge erklären wollen, welche Schmerzen oder Krankheiten sie haben, aber kein Englisch sprechen. Vor einigen Tagen wurde eine syrische Frau mit Atemnot in eines der Zelte gebracht. Meier hörte sie ab, konnte aber nichts feststellen.

Erst als ein Dolmetscher übersetzte, stellten sie fest, dass die Frau an schweren posttraumatischen Depressionen litt. Auf der Flucht durch die Türkei hatte ihr ein Arzt deswegen Medikamente verschrieben, die sie beim Essen einnehmen sollte. Doch weil die Frau seit drei Tagen nichts zu essen hatte, hatte sie auch die Medikamente nicht mehr eingenommen.

Nur wenig Hilfe möglich

Die Kinderärztin erlebt bei ihrer Hilfe aber auch, wie beschränkt ihre Möglichkeiten sind. Wenn vor ihr Kinder sitzen, die gar nicht reagieren, die nicht lachen, sie nur apathisch anstarren, wenn die Kinderärztin sie am Bauch kitzelt, sie anlacht, ihnen Gummibärchen gibt. "So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt sie.

Eigentlich müssten diese Kinder direkt von einem Kriseninterventionsteam betreut werden, stattdessen geht es aber erst einmal in den nächsten Bus, den nächste Zug, in eine Unterkunft. Oft sagen die Mediziner am Hauptbahnhof den Flüchtlingen, dass sie am nächsten Tag zu einem Arzt gehen sollen. "Aber ich weiß gar nicht, ob die Menschen tatsächlich dazu die Möglichkeit haben werden", sagt die Kinderärztin.

Wegen Masern, Windpocken, Diabetes oder Fieber könne sie die Menschen schließlich nicht in die Notaufnahme schicken. Anderen Patienten würde sie empfehlen, sich in Ruhe ins Bett zu legen und auszukurieren. Doch ob das in den Unterkünften möglich ist?

Platz für sehr geschwächte Menschen

Eine Art Zwischenstation zwischen Klinik einerseits und regulärer Gemeinschaftsunterkunft andererseits bietet das städtische Klinikum Schwabing seit einer Woche an. In zwei Gebäuden, die wegen des anstehenden Umbaus leer stehen, wurde eine Unterkunft für Flüchtlinge eingerichtet.

Die Plätze wurden diese Woche von 140 noch einmal auf 200 erhöht. Dort werden keine Patienten mit gravierenden Krankheiten untergebracht, sondern sehr geschwächte Menschen, die sich manchmal nur ein oder zwei Tage erholen müssen, bevor sie in eine Erstaufnahmeunterkunft gebracht werden können. Oder beispielsweise Familien, wenn eines der Kinder Fieber oder Masern hat.

Mitarbeiter des städtischen Klinikums und ehrenamtliche Helfer kümmern sich gemeinsam um die Flüchtlinge, die Zusammenarbeit funktioniere sehr gut, sagt Raphael Diecke, Sprecher des städtischen Klinikums. Die Flüchtlinge werden noch einmal medizinisch untersucht und bei Bedarf kann die medizinische Infrastruktur der Klinik genutzt werden.

Die Mitarbeiter und Ehrenamtlichen würden in drei Schichten arbeiten. Dabei beeinträchtige die Flüchtlingsunterkunft in keiner Weise den regulären Ablauf im Klinikum, sagt Diecke.

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Quelle:
SZ vom 15.09.2015/doen
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