Süddeutsche Zeitung

Asylbewerber in München:Wenn Flüchtlinge die neuen Nachbarn sind

Fast 30.000 Flüchtlinge leben in Bayern, Tendenz steigend. Die staatlichen Sammelunterkünfte sind überfüllt, deshalb müssen die Kommunen nun selbst Wohnraum schaffen. Doch vor Ort gibt es oft massiven Widerstand gegen die neuen Nachbarn. Andere Flüchtlinge haben Glück.

Von Melanie Staudinger und Stefan Mühleisen

Saddam Haji kann nicht genau begründen, weshalb er dieses Bild mit dem Bergpanorama auf die Kommode gestellt hat. Das gerahmte Foto zeigt einen weiten Blick über stolze Tannen auf schneebedeckte Hänge. "Es ist schön", sagt der 33-jährige schlicht über die angegilbte, womöglich vor Jahrzehnten geknipste Aufnahme. Dann sieht er aus dem Fenster - und sagt den Satz noch einmal. Er meint das gemächliche Dorfleben da draußen in Brunnthal, einer 4800-Einwohner-Gemeinde im Münchner Umland. Schon lange ist die Kommune bekannt wegen des gleichnamigen Autobahn-Kreuzes, seit vergangen Herbst auch deshalb, weil Menschen wie Sadam Haji hier zunächst nicht willkommen waren.

Der Afghane ist einer von derzeit fast 29 000 Flüchtlingen in Bayern, Tendenz: steigend. Die 142 staatlichen Einrichtungen im Freistaat sind überfüllt, längst haben die Bezirksregierungen die Landkreise und kreisfreien Städte in die Pflicht genommen. Die müssen jetzt in Eigenregie Quartiere finden; die Zuteilungsquoten sind per Verordnung genau festgelegt. Doch die Landräte und Bürgermeister tun sich schwer, Objekte für Sammelquartiere zu finden. Deshalb grasen die Behörden den Immobilienmarkt ab und quartieren die Flüchtlinge oft in einzelne Wohnungen ein. Diese "dezentrale Unterbringung" ist für die Landratsämter ziemlich aufwendig und teuer. Doch viele Flüchtlinge bekommen dadurch ein menschwürdiges Obdach - und ein Zimmer mit Aussicht auf ein besseres Leben im fremden Deutschland.

Saddam Haji sitzt mit seiner Frau Alia, 24, auf der schwarzen Kunstledercouch, sie sehen ihrem Sohn Roni, 6, und Tochter Ranin, 3, zu, die quietschfidel auf dem Parkettboden vor einem Flachbildfernseher herumtollen. Nebenan schläft Rania, 30 Tage alt, in ihrem Kinderbettchen. Ein sonniger Vormittag in dem ehemaligen Pfarrhaus in Brunnthal, das jetzt eine Flüchtlingsunterkunft für 14 Bewohner ist. Vier Familien mit insgesamt sieben Kindern leben in sechs Zimmern. Die Hajis haben zwei abbekommen: Stockbetten mit weißblauer Bettwäsche und graue Spinde stehen vor sandgelb getünchten Wänden.

Für eine deutsche Familie wäre es ziemlich eng, die Hajis sind zufrieden. "Die Menschen sind sehr freundlich hier", sagt Saddam Haji und erzählt dann in gebrochenem Deutsch wie anders es war, als sie in Zirndorf angekommen waren, dem mittlerweile völlig überfüllten Erstaufnahmelager, wo Garagen und Gebetsräume zu Schlafsälen umfunktioniert werden mussten. "Wir werden hier sehr freundlich und respektvoll behandelt", sagt Saddam Haji. Zudem überaus gastfreundlich: Kommode, Fernseher, Kinderbett und das Bild mit dem Bergpanorama sind alles Spenden von Brunnthaler Bürgern.

Das sah im September 2012 noch anders aus. Damals stemmten sich Teile der Bürgerschaft und der Lokalpolitik vehement gegen die fast schon flehentliche Bitte von Landrätin Johanna Rumschöttel (SPD), 36 Flüchtlinge im leer stehenden Gasthof einquartieren zu dürfen. Die Behördenchefin sprach damals von einer "feindseligen Umgebung". Nun sind nur knapp über ein Dutzend in dem Ort südlichen von München. Doch die sind schon fast Teil der Dorfgemeinschaft.

Großen Anteil daran hat der ehrenamtlicher Helferkreis "Weltoffenes Brunnthal", gegründet kurz nach dem Eklat im September. "Wir sehen es als unsere Aufgabe an, den Leuten hier vor Ort zu helfen", sagt Hilde Miner aus dem Führungskreis der mittlerweile rund 50 Unterstützer zählenden Vereinigung. Sie geben Sprachkurse, organisieren Sachspenden, helfen bei Behördengängen. Miner fuhr einmal um zwei Uhr in der Nacht ein schwangere Mutter ins Krankenhaus, als die Wehen einsetzten. Für das Landratsamt, das mit nur zwei Halbtageskräften 210 dezentral einquartierte Asylbewerber in 14 Gemeinden bewältigen muss, eine wertvolle Hilfe. "Das Engagement der Helferkreise ist für uns eine wichtige Unterstützung", sagt ein Behördensprecher.

Ortswechsel: Wieder ein kleines Dorf, Hebertshausen im Landkreis Dachau. Ken hatte Schlimmeres befürchtet, als er mit seiner schwangeren Frau Rahal in der S-Bahn hier herfuhr. Ein heruntergekommener Baracke würde wohl ihre neue Bleibe werden, oder ein Blechcontainer. Stattdessen standen sie vor einem stattlichen Haus mit drei Stockwerken, einem ehemaligen Altenheim. Gleich neben dem Eingang rechts bezogen sie ein helles, sauberes Zimmer mit einem kleinen Balkon zum Wäscheaufhängen, zwei Betten, einem Schrank und einem Waschbecken. Die Toiletten und Duschen auf dem Flur müssen sie mit den anderen Bewohnern teilen, ebenso die Küche. Ken und Rahal, 32 und 26 Jahre alt, sind aus Nigeria geflohen. Ob sie bleiben dürfen, wird sich frühestens im September entscheiden. Bis dahin wohnen sie inmitten einer nahezu herrschaftlichen Parkanlage. Rahal kann sich hier das erste Mal richtig auf ihr Baby freuen. Mütter aus dem Ort haben einen Kinderwagen, Strampelanzüge und Windeln gespendet, eine Frau begleitet sie zum Arzt.

Dass Flüchtlinge recht komfortabel in einem früheren Pflegeheim wohnen, ist der Not geschuldet. Seit Frühling ist bekannt, dass der Landkreis künftig 100 Asylbewerber mehr aufnehmen muss als die knapp 150, die bisher in den maroden Baracken am Stadtrand von Dachau leben. "Natürlich haben nicht alle Bürger von Anfang an jubiliert", sagt Richard Reischl, Gemeinderat und Bürgermeisterkandidat der CSU. Viele fürchteten, dass ein Flüchtlingsansturm das 5400-Einwohner-Dorf überfordern könnte. Die Kommunalpolitiker aber gründeten einen Runden Tisch. Ehrenamtliche kümmern sich seither um die "neuen Mitbürger", wie die Asylbewerber bereits genannt werden.

Wie in Brunnthal so wachsen die 23 Männer und zwei Frauen aus Nigeria, Senegal, Sierra Leone oder dem Kongo langsam in die Dorfgemeinschaft hinein. Manche gehen - nach dem Deutschkurs - abends hinüber ins Feuerwehrhaus zum Billardspielen; andere spazieren mit den Mitgliedern des Fischereivereins zum Angeln. Manchmal kommen Hebertshausener vorbei, um sich die Unterkunft genauer anzuschauen. Und die Flüchtlinge sieht man, wenn sie die Gegend mit ihren Fahrrädern erkunden oder im Supermarkt Speisen und Getränke kaufen.

Noch verwaltet das Landratsamt das Gebäude, wenn aber die Regierung von Oberbayern die Unterkunft übernimmt, wird sich das wohl ändern. Aus der dezentralen Unterkunft könnte schon bald ein Gemeinschaftsquartier werden. Lokalpolitiker Richard Reischl befürchtet Schwierigkeiten. "Integration ist einfacher, wenn nicht Hunderte Flüchtlinge an einem Ort zusammenleben", sagt er. Dann aber wäre es vorbei mit der Ruhe in der Parkanlage, vorbei mit den regelmäßigen Deutschkursen, vorbei wohl auch mit einem einigermaßen geräumigen Platz, der Flüchtlingen aus Krisengebieten eine persönliche Perspektive auf ein Leben in der deutschen Gesellschaft eröffnet.

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Quelle:
SZ vom 23.07.2013/wib
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