Asyl:30 Mal am Tag: Gehen oder bleiben?

Asyl: Jede Akte ein Fall, jeder Fall ein Schicksal: Fast jeder abgelehnte Asylantrag landet bei einem Verwaltungsrichter, die Münchner sind für jedes zweite Verfahren in Bayern zuständig.

Jede Akte ein Fall, jeder Fall ein Schicksal: Fast jeder abgelehnte Asylantrag landet bei einem Verwaltungsrichter, die Münchner sind für jedes zweite Verfahren in Bayern zuständig.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Zahl der Asylverfahren am Münchner Verwaltungsgericht hat sich verzehnfacht. Inzwischen müssen zur Bearbeitung der abgelehnten Anträge alle Richter dort ran - und bekommen oft dramatische Lebensgeschichten zu hören.

Von Stephan Handel

"Na", sagt der Anwalt, "bei Ihnen sieht's ja ganz gut aus. Bei dem hier nicht so." Und er tippt auf einen Aktendeckel, in dem ein Schicksal abgelegt ist. Es ist kurz vor neun Uhr am Verwaltungsgericht an der Bayerstraße, gleich wird verhandelt werden über die Leben, die in den Aktendeckeln aufbewahrt werden. Knapp 30 Mal wird Recht gesprochen werden, und das lässt sich in all diesen Fällen verkürzen auf die Frage: Gehen oder bleiben?

In 28 Kammern ist das Münchner Verwaltungsgericht organisiert; das sind jeweils drei Richter. Jede hat eine Spezial-Zuständigkeit: Baurecht, Dienstrecht, Waffenrecht, alle Bereiche, in denen der Bürger mit der öffentlichen Verwaltung in Berührung kommt. Ein Gebiet aber gibt es, mit dem muss sich jeder der 89 Richterinnen und Richter hier beschäftigen: mit den Klagen gegen die Bescheide des Bundesamtes für Migration, das als erstes darüber entscheidet, ob ein nach Deutschland geflüchteter Ausländer hier bleiben kann. Wenn die Antwort darauf ein Nein ist, dann landen die Fälle meist vor dem Verwaltungsgericht. Davon gibt es sechs in Bayern, an denen zurzeit etwa 40 000 Verfahren "wegen Vollzug des Asylgesetzes" anhängig sind. Die Hälfte davon werden in München verhandelt.

Mit nüchterner Stimme liest Stefan Strehler das Aktenzeichen vor. Verfahren M 27 K 17.36617 sitzt vor ihm: Joy A., 25 Jahre alt, aus Nigeria, mit ihrem Sohn Destiny. Joy A. ist im Sommer 2015 nach Deutschland gekommen, nachdem sie die Bootsfahrt von Libyen nach Italien überlebt hat, wie sie berichtet. Destiny ist hier zur Welt gekommen, und wie das ging, davon wird später noch die Rede sein.

Im Moment hat es sich der Bub zur Aufgabe gemacht, die Verhandlung möglichst lautstark zu stören - so lange, bis Richter Strehler schließlich reagiert: "Für solche Fälle habe ich etwas dabei", sagt er, holt unter dem Richtertisch eine Plastiktüte hervor und bringt sie dem Kind. Bauklötze sind drin, und als die Mutter höflich "Danke" sagt, sagt der kleine Bub genauso höflich: "Bitte." Jetzt kann's weitergehen.

Während der Zweijährige nun also mit den Bauklötzen hoch hinaus will, erzählt Joy, warum sie ihre Heimat verlassen habe. Von ihrem Vater, der umgebracht worden sei, von der Genitalverstümmelung an ihrer Schwester, von Armut, Not und Hunger in einem Land, das schon lange aufgehört hat zu funktionieren. Schließlich fragt Richter Strehler sie nach ihrem Sohn und ob es einen Vater dazu gibt. Da erzählt sie, dass sie auf der Flucht in Libyen von vier Männern vergewaltigt worden sei, einer davon müsse der Vater sein.

Andrea Breit ist die Präsidentin des Verwaltungsgerichts. Zwischen dem Sitzungssaal, in dem Destiny spielt und nicht versteht, was seine Mutter da gerade erzählt, und ihrem Büro liegen vier Stockwerke - was aber nicht bedeutet, dass sie nicht wüsste, womit die Richter sich den ganzen Tag beschäftigen. Breit sitzt selbst der 1. Kammer vor und erledigt dort wie all ihre Kollegen auch Asyl-Verfahren. Der, wie sie sagt, "schwallartige Eingang" von Verfahren hat natürlich zu tun mit der großen Flüchtlingswelle im Jahr 2015. Die Menschen stellten ihre Asylanträge, das Bundesamt für Migration entschied darüber, und die, die abgelehnt wurden, landen jetzt bei den Verwaltungsgerichten. Im Jahr 2014 lag die Zahl der eingehenden Verfahren in München bei 2005. Von Januar bis September 2017 kamen fast 21 000 Verfahren neu hinzu - das Zehnfache.

21000 Asylverfahren

sind von Januar bis September beim Verwaltungsgericht neu aufgelaufen. Und fast ebenso viele sind derzeit noch offen, obwohl in diesem Jahr bislang 7000 abgeschlossen wurden. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, bekam das Gericht insgesamt zwölf neue Richterstellen zugebilligt.

Breit beschwert sich nicht über diese Belastung, im Gegenteil: "Unser Ministerium hat uns gut behandelt", sagt sie. Zwei neue Kammern wurden bewilligt, zum neuen Jahr kommen noch mal zwei dazu, das sind dann insgesamt zwölf Richterstellen plus das andere Personal, das nötig ist; jede Kammer braucht zum Beispiel eine eigene Geschäftsstelle.

Die Rechtslage zählt, nicht die Sympathie

Stefan Strehler, der sich sonst um Angelegenheiten wie Ärzteprüfungen oder Glücksspielrecht kümmert, hat die Verhandlung mit Joy A. und Destiny mittlerweile abgeschlossen. Der nächste Fall kommt ebenfalls aus Nigeria, was kein Zufall ist: Die Richter müssen schon auch Bescheid wissen über das Land, aus dem ihre Klienten kommen, und die 27. Kammer, der Strehle angehört, beschäftigt sich nun eben mit Nigeria. Das Fachwissen über Politik, Wirtschaft, Geografie und Krisen beziehen die Richter aus Kompendien, die den schönen Namen "Erkenntnismittelliste" tragen: Mitteilungen des Außenministeriums und von Nichtregierungs-Organisationen wie Amnesty International, aber auch "nicht so seriöse" Informationen, wie Breit sagt, Zeitungsartikel zum Beispiel.

Die helfen dem Richter im nächsten Fall allerdings auch nichts: Vor ihm sitzt Sodiq A., der bald 23 Jahre alt wird und seit vier Jahren in Deutschland lebt. Bevor er hierher kam, hat er sich in Lagos, der größten Stadt seines Heimatlandes, als Straßenverkäufer durchgebracht - da war er noch keine 18 Jahre alt. Seine Eltern hat er irgendwie verloren, als die Farm der Familie abgebrannt ist. Sein Fall ist aus der Kategorie "Sieht ganz gut aus", wie der Richter sagt, aber er meint nicht das Asylverfahren: Sodiq A. hat eine Tochter mit einer Deutschen, und das bedeutet, dass er auf den Asyl-Status vielleicht gar nicht angewiesen ist, sondern eine Aufenthaltserlaubnis wegen der Vaterschaft bekommt.

Sollten sich Emotionen regen in Stefan Strehler, dann weiß er sie zumindest gut zu verbergen. Breit, seine Präsidentin, sagt, das sei das Schwierige an der Aufgabe: dass dem Richter die Menschen vielleicht sogar manchmal leidtun, über die er zu Gericht sitzt. Dass er aber trotzdem nach der Gesetzeslage zu entscheiden hat und nicht nach seiner persönlichen Sympathie. Das ist, andererseits, aber auch das Großartige, wenn man einen Tag lang dem Rechtsstaat bei der Arbeit zusieht: Dass alles, was dieser Rechtsstaat tut, überprüft werden kann von einem Richter, der so unabhängig ist, dass Andrea Breit ihm nicht einmal vorschreiben kann, wann er im Büro zu sein hat. Es gibt ja immer wieder Leute, die das für überflüssigen Kokolores halten, allerdings meist nur so lange, bis sie sich selbst vom Staat ungerecht behandelt fühlen, wenn es zum Beispiel um eine Baugenehmigung geht.

Breit sagt dann noch einen Satz, der in Richter Strehlers drittem Verfahren an diesem Tag eine Rolle spielt: "Das deutsche Recht liefert niemanden sehenden Auges dem Tod aus." Osaro E., der nicht genau weiß, ob er 27 oder 30 Jahre alt ist, hat einen Anwalt dabei, und der, Roland Kuhnigk, überreicht als erstes ein Attest: Sein Klient leidet an Hepatitis. Ein Freifahrtschein zum Bleiberecht ist das allerdings noch lange nicht. "Ich muss überlegen, ob das reicht", sagt der Richter, denn akut lebensbedrohlich ist die Erkrankung nicht.

Sowieso, weiß Kuhnigk, der Anwalt: "Nigeria ist problematisch." Zwar wütet im Norden die Terror-Miliz Boko Haram, aber eben nur im Norden, was den Menschen die Gelegenheit zu "innerstaatlichen Fluchtalternativen" bietet. Dabei bleibt - zunächst - unberücksichtigt, dass Nigeria als Staat defekt ist, dass niemand dort geschützt sein kann vor Korruption und Kriminalität. Osaro E. zum Beispiel gibt an, er sei geflohen, weil ihn die "Mafia-Boys" in Lagos unbedingt hätten überreden wollen, bei ihnen mitzumachen, was er aber mehrfach abgelehnt habe, bis er tatsächlich in Lebensgefahr geraten sei.

Um Schicksale geht es am Verwaltungsgericht, 30 Mal am Tag, fast 7000 Urteile und andere Entscheidungen wurden heuer schon gesprochen, fast 20 000 Verfahren sind noch offen. Die Welle schwappt gegen das Gebäude in der Bayerstraße, aber sie überschwemmt es nicht. Sie arbeiten für den Rechtsstaat, ohne Ansehen der Person, nach dem Buchstaben des Gesetzes. Und wenn sie doch einmal Mitleid verspüren würden, dann hat das keinen Einfluss auf die Entscheidungen: Die Klagen von Joy A., von Sodiq A. und von Osaro E. werden abgewiesen.

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