Architekturspaziergang:Schönheit zwischen Beton

Lesezeit: 6 Min.

Auf dem Spaziergang von der Münchner Freiheit ins Berliner Viertel stößt man immer wieder auf Gegensätze - und auf das Erbe von Wassily Kandinsky.

Von Nicole Graner (Texte) und Robert Haas (Fotos)

Das etwas komische, ziemlich exzentrische und selbstbewusste Schwabing, in dessen Straßen ein Mensch - sei es ein Mann oder eine Frau - ohne Palette, oder ohne Leinwand, oder mindestens ohne eine Mappe sofort auffiel wie ein Fremder in einem Nest. Alles malte - oder dichtete, oder musizierte, oder fing zu tanzen an ", schreibt Wassily Kandinsky 1931 in der Zeitschrift Das Kunstblatt. Schon da hatte sich sein geliebtes Schwabing - er wohnte an der Ainmillerstraße 36 - sehr verändert. Heute würde der berühmte Maler, der an der Hohenzollernstraße 6 a eine eigene Malschule gründete, andere Adjektive für Schwabing finden müssen: teuer und reich zum Beispiel.

Selbstbewusst - ja, das ist Schwabing allerdings noch immer. Wenn auch trotz Kabarett-Meile, schiefer Laterne am Wedekindplatz, Tams-Theater und Schwabinger Kunstpreis ohne den damaligen Charme, künstlerischer Mittelpunkt zu sein. Es ist ein Viertel der Gegensätze. Auf der einen Seite könnte das Wort "Beton" Ausdruck dafür sein. Es mag bei diesem kurzem Spaziergang für den Versuch stehen, in den Siebzigerjahren architektonisch und bautechnisch neue Wege zu gehen, die Moderne auch als eine Chance für Urbanität zu begreifen. Die Schnittstelle ist vielleicht die zwischen zwei Beton-Bauten (Forum und Fuchsbau) eingebettete Erlöserkirche. Theodor Fischer setzte mit dem Bau ein bis heute sichtbares Zeichen, ließ den ewig in der Vergangenheit verharrenden Historismus zurück. Das Tantris ist dann ein markanter Schlussstein aus Beton.

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Die Verquickung - von Neuem und Altem, von Gewachsenem und Gewöhnungsbedürftigem - ist ein Motto im nördlichen Schwabing. Der Versuch, die Leopoldstraße und die von ihr rechts liegenden Straßen mit markanten, architektonischen Bauten stadtauswärts aufzuwerten, ist zum Teil dem U-Bahn-Bau anlässlich der Olympischen Spiele 1972 geschuldet. Und er müsste eine Fortsetzung finden, in der Chance, weitere Plätze, auf denen Menschen zusammenkommen können, zu ermöglichen. Zum Beispiel durch die Verlängerung der Fußgängerzone bis zur Erlöserkirche. Die Ungererstraße reißt eine Schneise zwischen Münchner Freiheit/Forum und Kirche, fügt nicht zusammen, sondern trennt. Ein erster Schritt in diese Richtung ist gemacht: Die Ungererstraße soll jeweils einspurig befahrbar und verkehrsberuhigt werden, die Leitplanken sollen verschwinden. Verschwinden dagegen darf keinesfalls der so sehr geliebte Spielplatz, auf dem wunderbare Wasserburgen Wirklichkeit werden.

Kandinsky malte in Schwabing sein erstes abstraktes Bild. "Dort", so schreibt er in dem anfangs zitierten Text weiter, "trug ich mich mit Gedanken über ,reine' Malerei, reine Kunst herum. Ich träumte von der kommenden großen Synthese." Diese Synthese sollte für Kandinsky eine künstlerische sein. Für Schwabing gibt es sie - ersetzt man Synthese durch Harmonie - mittlerweile auch. Beton und niedrige, beschauliche Häuserreihen (Virchowstraße und Danziger Straße) sind eine Symbiose eingegangen. Gartenstadt und Verwaltungsgebäude ergänzen sich. Wohl auch deshalb, weil das Berliner Viertel im Viertel ein Erfolg ist. Bauen für einen "menschlichen Maßstab" hieß es in der städtebaulichen Beschreibung damals.

Wie sehr die Menschen den Schwabinger See lieben und den Brunnen vor dem Sparkassen-Verwaltungszentrum, zeigt sich besonders an lauen Sommerabenden. Dann hätte Kandinsky auch wieder Freude an seinem Schwabing. Denn wunderbare Motive wären die gelben Kunst-"Quirls" vor dem Verwaltungszentrum, die sich nach Manier des Blauen Reiters in abstrakte Formen wandeln ließen. Oder die Menschen am See.

Inmitten urbaner Dichte heißen die Oasen der heutigen Zeit: belebte Plätze, Brunnenpausen und volle Parkbänke. "Das ist meine Bank", sagt eine Frau mit einem dicken Schmöker, die am Schwabinger Seeufer ihren Feierabend beginnt. Ihren Namen will sie nicht sagen, aber ihrem Lebensgefühl Ausdruck verleihen: "Diese Bank ist ein Stück von mir. Ich komme hierher, wenn ich Ruhe brauche, Zeit für mich." Sie wohne im Berliner Viertel und liebe es. Wegen des vielen Grüns, der gelebten Nachbarschaft - ja, und eben wegen dieser Bank am See. In solchen Momenten könnte man sich direkt daneben auch eine Staffelei vorstellen: Wassily Kandinskys vielleicht.

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1. Forum Münchner Freiheit

Warum es sich lohnt innezuhalten: "Lisa!!". Der Ruf einer Mutter, die ihren Kinderwagen gerade über die Rampen im Forum Münchner Freiheit hochgeschoben hat, ist eindringlich. Lisa hört nicht, saust die Rampen lieber wieder nach unten. Kinder mögen das Forum und im Sommer das Wasser des Treppenbrunnens. Mit Folgen: pitschnasse Kleidung. Das Forum ist geliebt. Von Hunden, Schachspielern, von Mittagspauslern. Auch wenn das seit 1974 existierende Café im Forum nach einem Wasserschaden schließen musste - die Menschen holen sich Eis vom Café Münchner Freiheit, sitzen am Brunnen, auf langen Bänken. Die Wut, die die Schwabinger einst in einer großen Protestaktion zum Ausdruck brachten, als der alte Platz zu einem riesigen Einkaufszentrum werden sollte und dann zu einem Beton-Forum wurde, ist verraucht. Teilweise: Der 2009 neu gebaute Busbahnhof mit seinem porösen grünen Dach polarisiert aufs Neue.

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2. Erlöserkirche

Warum es sich lohnt innezuhalten: Zwei Engel blicken auf die Welt. Sie beugen sich weit nach vorne - so als ob sie ganz nah bei den Menschen sein wollten. Sie blicken aus dem Himmelsblau nach unten, dorthin, wo der Mensch von der Taufe bis zum Tod seinen eigenen Weg geht. Linda Kögel (1861-1940) hat das Fresko in der Apsis gemalt. In jener Kirche, die architektonisch Ausdruck ist für eine Zeitenwende: Der Historismus sollte durch neue Wege in Kunst und Architektur abgelöst werden. Im Innenraum sind der für München typische, florale Jugendstil, romanische und gotische Elemente zu sehen. Theodor Fischer, der an der Giselastraße wohnte, wagte mit dem Bau einen Schritt in die Moderne. Gelungen ist ihm das. Denn der Bau fasziniert noch immer und holt den Betrachter aus dem hektischen Alltag heraus in eine wohltuende Stille. Menschen ziehen sich hierher zurück, lassen sich treiben - vom Strom des Lebens, der die Kassettendecke ziert.

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3. Fuchsbau

Warum es sich lohnt innezuhalten: Die Musik läuft. Der Schriftzug "Derrick" leuchtet gelb. Der Schwabinger Fuchsbau ist im Bild, das fast dem Foto vom Mai 2017 gleicht. Tatort in Folge 197 der Krimiserie ist 1991 das Gebäude, das Anfang der Siebzigerjahre als eine Art Pyramidenhochhaus mit Geschäften entstand. Staunend standen die Schwabinger damals vor dem Bau mit seinen vielen Balkonen, den treppenartigen Terrassen, der wabenartigen Fassade und den roten Fensterrahmen. Die meisten kopfschüttelnd - ihnen gefiel dieser "Betonklotz" so gar nicht. Dann zog 1972 das Filmkunsttheater "Lupe 2" ein; der Fuchsbau wurde damit zu einem kleinen Treffpunkt für Cineasten. Heute mault kaum einer mehr - der Bau hat sich eingefügt in den Alltag. Die Bewohner lieben ihre Wohnungen, ihre Balkone, die sie mit Netzen vor Tauben schützen. Zur Mittagszeit wird der kleine Vorplatz, auf dem wohl einst auch Derrick geparkt hat, zum Snack-Ort.

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(Foto: Robert Haas)

Zwei Fantasiegeschöpfe aus Beton scheinen den Eingang zum Gourmet-Tempel zu bewachen. Oder haben sie den Gästen einfach nur den Weg frei gemacht? Erschaffen wurden sie jedenfalls von dem Schweizer Künstler und Architekten Bruno Weber (1931-2011).

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(Foto: Robert Haas)

Wer jedoch bei einem Besuch nicht gleich durch die Tür ins Innere verschwindet, sondern sich ein wenig umsieht, stößt auf den kleinen Walk-of-Fame. Vor dem Eingang haben Eckart Witzigmann, erster Koch im Tantris, Sommelière Paula Bosch sowie alle weiteren Köche ihren Handabdruck hinterlassen.

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(Foto: Restaurant Tantris)

Doch wie kam München eigentlich zu seinem Gourmet-Tempel? Ganz einfach: Bauunternehmer Fritz Eichbauers größtes Hobby ist das Kochen. Und so erfüllt er sich 1971 den Traum vom eigenen Restaurant nach französischem Vorbild. Als Koch gewinnt Eichbauer den jungen Eckart Witzigmann.

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(Foto: Restaurant Tantris)

Zwei Tage sollen die Gespräche mit Eckart Witzigmann gedauert haben. Denn er könnte auch für die Kennedys arbeiten. Doch München ist verlockender, der Österreicher sagt zu. Um die beste Qualität auf den Teller zu bekommen, kommen die Zutaten direkt aus Paris.

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(Foto: dpa)

Eckart Witzigmann wird 1994 vom Gault-Millau die Auszeichnung "Koch des Jahrhunderts" verliehen. Bereits mehr als 20 Jahre zuvor hat er dem Tantris zu seinen ersten beiden Sternen verholfen. (1973, 1974). Der dritte folgte 1979. Heute sind es zwei Sterne - und das seit 26 Jahren.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Als "Autobahnkapelle" oder "Feuerwehrwache" wird das Interieur des Tantris anfangs verspottet. Doch Eichbauer hat an der Inneneinrichtung festgehalten. Den Besucher erwartet noch heute der Style der 1970er: Rot wie Hummer, schwarz wie Trüffel, heißt es über die Architektur von Justus Dahinden.

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(Foto: Restaurant Tantris)

Witzigmann verlässt das Tantris 1979 und widmet sich seinem eigenen Restaurant "Aubergine". Heinz Winkler übernimmt. Das Duell der beiden Spitzengastronomen findet jedoch nicht nur in den Küchen statt, sondern wöchentlich im Englischen Garten beim Fußball.

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(Foto: Restaurant Tantris)

Paula Bosch kommt 1991 ins Tantris, als erste Somelière in der deutschen Sternegastronomie. Nach 20 Jahren verlässt sie allerdings den Gourmet-Tempel, um sich in München selbständig zu machen. Mehr als 35.000 Flaschen umfasst der Weinkeller des Tantris.

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(Foto: Felix Hörhager/dpa)

Immer wieder ist das Tantris im Norden von Schwabing mit seiner rot-schwarzen Einrichtung Schauplatz für Filme: Die Folge "Maulhelden" aus der TV-Serie "Münchner Geschichten" spielt dort. Auch eine Derrick-Folge wird dort gedreht, sowie ein Musikvideo von Gloria Gaynor.

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(Foto: Restaurant Tantris)

Hans Haas übernimmt die Küche 1991, als dritter Chef de Cuisine. Zum Kochen ist er eigentlich durch Zufall gekommen. Sein Bruder hat ihn einmal zum Aushelfen in den Kellerwirt nach Tirol mitgenommen. Elf Jahre war er damals alt, mit 15 hat er seine Ausbildung zum Koch begonnen.

4. Tantris

Warum es sich lohnt innezuhalten: Sie haben schon immer dahin gepasst. Diese Fantasiegeschöpfe aus Beton, die wie geflügelte Wachhunde vor dem Gourmet-Restaurant brav Platz gemacht haben. Der Schweizer Künstler und Architekt Bruno Weber (1931-2011) hat sie geschaffen - jene Fabelwesen, die Kinder verleiten, auf ihre Rücken zu klettern und ins Traumland zu fliegen. 1971 wurde das Tantris eröffnet. Erster Koch war bis 1978 Eckart Witzigmann. Und weil sie wahre Stars der Kochkunst sind, haben Sommelière Paula Bosch und alle Tantris-Köche auf einem winzigen Walk-of-Fame direkt vor der Eingangstür ihre Handabdrücke hinterlassen - Witzigmann, Heinz Winkler (1978 bis 1991) und Hans Haas, der bis heute in seiner Küche mit den orangefarbenen Kacheln Kreationen für den Gaumen zaubert. Das Gebäude steht seit 2012 unter Denkmalschutz. Ob das auch für die Flügelwesen gilt? Sicher. Sonst wären sie schon weggeflogen.

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5. Berolinabrunnen

Warum es sich lohnt innezuhalten: Zugegeben. Auf dem Foto ist er nicht zu sehen. Aber es gibt ihn, den dünnen, zweigeteilten Wasserstrahl mit Symbolkraft. Die barbusige Maid, die auf umgestürzten Säulen sitzt, teilt ihn mit zarter Hand: das Wasser, das aus zwei Düsen - manchmal höher, manchmal niedriger - emporsteigt, aber aus einer Quelle gespeist wird. Berolina heißt die zarte Schöne; sie personifiziert die Stadt Berlin und das Los der Spaltung in Ost und West. Bildhauer Ernst Andreas Rauch (1901-1990) hat den Brunnen geschaffen wie auch den Karl-Valentin-Brunnen auf dem Viktualienmarkt - wohl in der Hoffnung, dass sich das Blatt einmal wenden würde. Verwunschen ist der versteckte Platz. Viele bemerken den immer wieder vermoosten Brunnen vor dem Zaun des angrenzenden Ungererbades kaum. Aber das leise Plätschern des Wasserstrahls hat etwas Beruhigendes. Manchmal trifft man Ruhesuchende und führt leise Viertel-Gespräche.

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(Foto: Robert Haas)
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(Foto: Robert Haas)
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(Foto: Robert Haas)

6. Berliner Viertel

Warum es sich lohnt innezuhalten: Berg- und Spitzahorn, Platanen, Kastanien, Trauerweide, Hecken und Kletterpflanzen - man konnte es sich kaum vorstellen, dass das große Quartier zwischen Ungerer- und Leopoldstraße mit 1500 Wohnungen einmal so grün werden würde. Eine Gartenstadt mit Alleen, Innenhöfen, Vorgärten, Sträßchen und Plätzen sollte das "Berliner Viertel" werden - und es wurde eine. Die Bäume sind groß geworden, die Hecken mächtig. In den Innenhöfen spielen Kinder. Im Schwabinger See tummeln sich Karpfen, an der "Seepromenade" wird das Leben geliebt: Auf den Bänken treffen sich Anwohner für einen Plausch, Ruhesuchende für ein Lesestündchen, Kinder für eine Schatzsuche. Zeit für sich, auch das signalisiert die Steinskulptur "Hockende" von Wilhelm Uhlig von 1986. Noch etwas gehört dazu: Enten und Gänse. Ohne sie kein "Berliner-Viertel-Effekt".

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7. Sparkassen Verwaltungszentrum

Warum es sich lohnt innezuhalten: Diese Scheiben sind ein einziger großer Spiegel. Bei gutem Licht ist in ihnen so manches zu sehen. Wolken bekommen eine eigentümliche Dichte und die Kunstbäume auf dem Platz des Sparkassen-Verwaltungszentrums, die die Architekten selbst entworfen haben, und, wie Angelika Baier von der Stadtsparkasse erklärt, "von einer Münchner Schlosserei angefertigt worden sind", verdoppeln sich. Kein Wunder, dass sich alles spiegelt - 17 000 Quadratmeter Fassadenfläche aus Alu und Glas wurden verbaut. Vor dem Gebäude lässt es sich am Brunnen, von Eduardo Paolozzi​ 1989 entworfen, herrlich sitzen. Wer in das Foyer der Stadtsparkasse möchte, fragt vielleicht einfach den Pförtner. Denn ein Blick hinein lohnt sich: Denn auch da wird mit Wasser gespielt - als Inspirationsquelle für die Mitarbeiter, die sich nach dem Wunsch der Architekten wohlfühlen sollen.

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