"Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt." Der Satz stammt vom Milieumaler Heinrich Zille, genannt Pinselheinrich. Der lebte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Berlin, weshalb er all die neuen Wohnungen, die seit einigen Jahren in München entstehen, nicht gemeint haben kann. Halten wir fest: Der aktuelle Wohnungsbau in München ist kein Axtmörder. Aber lässt sich sonst noch etwas Positives darüber sagen?
Diese Frage stellt sich, wenn man als Architekturkritiker die neuen oder noch jungen Münchner Wohnquartiere besucht, von "Baumkirchen Mitte" im Osten bis zum Quartier "Am Hirschgarten" im Westen, vom "Domagk-Park" im Norden bis zum Viertel "Südseite" im Süden. Das Fazit: Es ist nicht alles schlecht, was die Stadt als "innovativen Wohnungsbau" anpreist. Was da zum Viertel geworden ist oder noch wird. Wobei Letzteres gelegentlich auf dem Prinzip Hoffnung basiert.
Vieles davon ist gut organisiert; es stimmen (meist) die Dichte, der Mix und die Körnung; gelungen sind (oft) die Durchwegung, Belichtung, Belüftung, der Übergang von öffentlichen zu privaten Bereichen, die Freiflächengestaltung, das Angebot an Grün und Sport, an Einkaufsmöglichkeiten und Verkehrsinfrastruktur.
Geboten werden (häufig) Teilhabe, Transparenz und Offenheit - aber auch Rückzugsräume bis hin zu modernen Gästeapartments für die Gemeinschaft oder Dachgärten. Autofreiheit ist ein großes Thema. Gut so! Namhafte Architekten sowie junge Talente waren an den meisten Projekten beteiligt, qualitätsbewusste Bauträger häufig, alternative Baugruppen zu selten, kompetente Verwaltungsexperten zumeist. Dazu kamen Grünplaner, Spielplatz-Gurus, Energetikfachleute, Sozialwissenschaftler, Partizipationsmanager . . . Es fehlt eigentlich nur der Wünschelrutengänger.
Ist der Wunsch nach charmanten Wohnvierteln naiv?
Doch, die neuen Münchner Viertel funktionieren. Sie sind sozusagen "in Ordnung". Nur eben nicht oder nur selten auch "schön". Schöne, charmante, ja zauberhafte Wohnviertel entstehen zu lassen: Ist das etwas, was aus der Mode gekommen ist? Ist der Wunsch danach naiv? Ist das Wissen darum abhanden gekommen - oder zu teuer geworden?
Was München baut, sind DIN-Wohnräume, die der Markt hergibt. Wohnregale. Schlafstätten. Aufbewahrungsorte mit Stellplätzen, Strom und fließend Wasser. Mal sehr, sehr teuer, mal nur sehr teuer. Die Frage, die man sich aber immer wieder stellt, ist: Sind das auch Lebensräume? Es ist ein Rätsel: Wie kann man nur für so viel Geld, Ambition und Mühe so wenig sehenswerte, identifikatorisch wirksame Viertel entstehen lassen? Funktional mögen sie sein - haben die neuen Quartiere aber auch die Gabe, geliebt zu werden?
Denn das ist die wichtigste Funktion von allen: Nur Viertel und Quartiere, die von den Menschen, die darin leben, geliebt und angenommen werden als Heimat und Habitat, sind auch wirklich funktional.
Von der Borstei bis zum Olympiadorf, von der Siedlung in Ramersdorf zwischen Herren- und Frauenchiemseestraße bis zum bescheidenen Dreißigerjahrekleinod an der Alpenrosenstraße in Giesing: Es gibt in München genug Beispiele für qualitätvolle Lebensräume in allen Preislagen und allen bauhistorischen Abschnitten.
Bis zur Gegenwart.
Fast nichts, was in der Stadt in den letzten Jahren an Quartieren geschaffen wurde, reicht an die Stadtraumqualitäten von einst heran. Daher ist die Bilanz letztlich furchtbar ernüchternd. Die aktuelle Wohnsituation lässt sich so zusammenfassen: Erst findest du monatelang keine Wohnung, dann ist sie nahezu unbezahlbar - und dann musst du feststellen, dass das neue Viertel leblos, kalt und trist aussieht. Der Run auf die Altbauwohnungen inmitten herrlich patinierter Stadtviertel ist absolut verständlich. Das liegt nicht nur daran, dass die alten Viertel so großartig sind, es liegt mindestens ebenso daran, dass die neuen Viertel oft erbärmlich missglücken.