Architektur:Ein Märchenwald auf dem Stadtplatz

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Stuttgart, Berlin, Düsseldorf, Bonn, Hamburg, Kassel und sogar Deggendorf: Über ambitionierte Architekturprojekte wird aktuell vielerorts heftig gestritten

Von Gerhard Matzig

Als Ralf Büschl vor einigen Wochen den überarbeiteten Entwurf für das Paketposthallenareal vorstellte, hörte er sich so engagiert wie immer an - doch wirkte er auch ratlos. Etwas elternhaft. Er sagte mit müdem Unterton: "Wenn nach dieser Überarbeitung die Menschen unsere Hochhäuser nicht wollen, dann wollen sie eben nicht." Das hört sich nach einer Mischung aus Verzweiflung, Trotz und Flehen an. Eltern kennen das.

Der Münchner Investor hat zusammen mit den Architekten aus Basel viel getan, um die Zwillingstürme im Westen der Stadt als Chance zur Stadterneuerung kenntlich zu machen. Doch wuchs so den Bürgern auch die Rolle spätpubertierender Teenager zu. "Dann kann ich auch nichts mehr machen": So könnte sich auch die Kapitulation eines Latein-Lehrers anhören, der irritiert feststellt, dass er mit seinem Seneca gegen Netflix unterliegt. Seneca fragt in einem seiner Briefe nach den Gründen, die Menschen am Vernünftigsein hindern. Er nennt die gegensätzlichen Kräfte der Erschlaffung und der übertriebenen Unruhe. Was die partizipatorische Baukultur angeht: Deutschland geht gerade von der Periode der Erschlaffung über in die Phase der übertriebenen Unruhe. Die schlechte Nachricht für Investoren lautet also: Visionäres bis Utopisches zu realisieren - das wird schwieriger in der Ära der Pop-up-Mehrheiten, die oft auf schwankendem Grund stehen. Das Amalgam besteht aus bürgerlichem Engagement, allgemein egozentrischer Plapperlust und destruktiver Wutbürgerlichkeit.

Für demokratische Kulturen ist das Austarieren der stets diskursiven Stadtveränderung der einzig gangbare Weg. Wäre Büschl Ludwig I., wäre Jacques Herzog Leo von Klenze: Alles wäre einfacher. Nächstes Jahr könnten die Türme eingeweiht werden. Aber vielleicht ist es doch auch schön, kein Untertan mehr zu sein in Bayern. Übrigens lehrt der Blick über die Stadt hinaus, dass es fast überall einen oft anregenden Streit um Bauprojekte gibt. Die Bedingungen des Bauens in Deutschland sind auch abseits von Baubürokratie, Stahlpreisen und Handwerkermangel mittlerweile hochkomplex und fast immer politisch brisant. Ohne Bürgerbeteiligung und Bürgerstreit kommen Baustellen nicht mehr aus - auch wenn man manchmal das Gefühl hat, es nun mit Millionen von Deutschland-sucht-die-Superarchitektur-Juroren zu tun zu bekommen.

An erster Stelle auf der Liste umstrittener Projekte steht "Stuttgart 21". Als die Pläne zur Tieferlegung des Hauptbahnhofes bekannt wurden (Ingenhoven Architects), kam es zu Protest. Damals wurde der "Wutbürger" geboren als das störrische Elend, das er ist; aber es war ebenfalls die Geburtsstunde der konsensualen Planungskultur als Kulturleistung der Gegenwart. Streit, einmal mehr betrifft es das Büro Herzog & de Meuron, gibt es in Berlin um die Zukunft des Museums des 20. Jahrhunderts. Den einen wird das Projekt zu teuer, den anderen missfällt die "scheunenartige" Architektur, denn so bekäme man im Ergebnis zu Höchstpreisen eine Aldi-Filiale. Was ziemlich boshaft formuliert ist, zugegeben. In Düsseldorf streitet man sich schon seit Jahren um den richtigen Standort einer möglicherweise neu und dann direkt am Rhein zu errichtenden Oper (RKW Architektur +).

In Bonn, vor Jahren schon, ist eine ähnlich zeichenhafte Idee zum Bau eines Festspielhauses (Zaha Hadid) am Widerstand der Stadt gescheitert. Realisiert wird dagegen der zum öffentlichen Park und zum Hotel umzubauende Hochbunker in Hamburg. Bis heute ist die Stadt geteilter Meinung: Was für die einen eine faszinierende Vision ist, ist für andere ein dringender Grund, sich mal gründlich untersuchen zu lassen. Das gilt auch für die Brüder-Grimm-Stadt Kassel, die als Stadtplatz eine Art Märchenwald an prominenter Stelle umsetzen will. "Kitsch" sagen die Gegner dazu, "moderne Stadtgestaltung" ist es für die Befürworter. Am eigenartigsten in der Geschichte der Architektur-Zerwürfnisse ist vielleicht das Beispiel der Stadt Deggendorf. In der Perle Niederbayerns wird derzeit ein Hochhaus vollendet, das nur deshalb ein "Hochhaus" ist, weil laut Baurecht alles über 22 Meter Höhe so zu nennen ist. Als die Pläne vom höheren Haus (Kress Aumeier Architekten) bekannt wurden, zerstritt sich die halbe Stadt darüber. Heute muss man sagen: Deggendorf, mittlerweile wieder versöhnt, ist nicht der Apokalypse anheimgefallen. Das neue Stadttor tut der Stadt gut. Der Sage nach sollen sich die Deggendorfer übrigens einst gegen böhmische Truppen mit dem Werfen von Knödeln gewehrt haben.

Das ist eher Legende als historische Gewissheit, doch ist das Bewerfen von ungeliebter Architektur bis heute polizeilich nicht erwünscht. Das Streiten um die richtige oder falsche Baukunst, die auch die öffentlichste Kunst ist, ist dagegen immer richtig.

© SZ vom 03.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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