Arbeitsrecht:Schwerbehinderter erstreitet 90.000 Euro Abfindung

Eine Münchner Firma sperrt einen schwerbehinderten Arbeiter einfach aus - und die zuständigen Behörden verweigern die Hilfe. Vor Gericht erstreitet sich der 55-Jährige nun eine Abfindung. Grundlegende Fragen bleiben jedoch weiterhin unbeantwortet.

Von Bernd Kastner

Am Ende geht dann alles schnell, vergleichsweise schnell. Die Richterin bringt die Streitparteien dazu, dass sie endlich miteinander reden, wenn auch nur übers Geld, und dann dauert es noch zwei Stunden, ehe diese Geschichte endet. Die Geschichte des Arbeiters R., die vor eineinhalb Jahren ihren Anfang genommen hat.

Würde sie nicht in den Jahren 2012 bis 2014 in München spielen, in einem mittelständischen Betrieb, in einem Amt und vor Gericht, man könnte meinen, sie stammte von Franz Kafka, dem Meister des Absurden. Am Ende also vereinbaren Arbeitgeber und Arbeiter, sich zu trennen. R. erhält 90 000 Euro Abfindung dafür, dass er nach 21 Jahren seinen Arbeitsplatz räumt. Ob er jemals wieder einen finden wird, ist ungewiss. R. ist schwerbehindert.

"Jetzt sind wir halt auf dem Basar", sagt irgendwann die Richterin zu den beiden Parteien. Mit Basar meint sie ihre eigene Kammer am Arbeitsgericht. Da zeichnet sich ab, dass in der Causa R. nicht Recht gesprochen wird, sondern gefeilscht wird. Der Preis nennt sich dann "Vergleich".

Angefangen hat alles an einem Augusttag im Jahr 2012. Da erfährt R., dass er fortan nicht mehr zur Arbeit kommen darf, Anweisung vom Chef. R.s Grad der Behinderung liegt bei 50 Prozent, er war in den Jahren zuvor häufig und auch lange krank, und deshalb will ihn sein Arbeitgeber, ein Familienbetrieb aus der Kfz-Branche, nunnicht mehr arbeiten lassen.

Der Betriebsarzt bescheinigt, dass R. dazu gesundheitlich nicht mehr in der Lage sei. Allein, gekündigt wird R. nicht, Gehalt bekommt er aber auch nicht mehr. Das Integrationsamt, zuständig für die Belange von Behinderten, ist außen vor in diesem Fall, weil niemand gekündigt wurde. Es passiert - nichts.

Gibt es für R. keinen alternativen Arbeitsplatz im Betrieb?

R. hält sich für arbeitsfähig, nach der Reha hat ihm sein Arzt das auch bescheinigt, aber sein Chef gibt nichts darauf. Und die Arbeitsagentur fragt: Warum sollen wir Arbeitslosengeld zahlen? Herr R. hat doch einen gültigen Arbeitsvertrag. Es dauert ein halbes Jahr, ehe R. von der Agentur Geld bekommt.

Als ein Jahr vergangen ist, erfährt die Süddeutsche Zeitung von dem Fall. R.s Chef will eigentlich nicht darüber reden, erbittet Fragen dann aber schriftlich. Stimmt es, dass der Betriebsarzt R. gar nicht untersucht hat? Gibt es für R. keinen alternativen Arbeitsplatz im Betrieb? Wie verträgt sich die Aussperrung mit der Fürsorgepflicht einem 55-jährigen Mitarbeiter gegenüber, der mehr als zwei Jahrzehnte im Betrieb ist?

Die Fragen bleiben unbeantwortet, bringen aber plötzlich Bewegung in die Causa: R. wird gekündigt, fristlos. Der Vorwurf: Er habe sich an die Presse gewandt mit Aussagen, die dem Ruf der Firma schaden könnten. Damit die Kündigung wirksam wird, braucht der Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamtes.

Die Behörde ist dem Sozialministerium untergeordnet und soll sich um die Belange Behinderter kümmern, damit sie auf dem Arbeitsmarkt nicht wegen ihres Handicaps benachteiligt werden. Das Amt gibt grünes Licht für die Kündigung: R. habe gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen, die "Vorkommnisse" könnten "auch nicht mit seiner Behinderung entschuldigt werden".

War das Arbeitsverbot rechtens?

R. wird angelastet, dass die SZ Fragen gestellt hat, die Behörde tut, als sei sie informiert über die Recherchen. Der amtliche Bescheid klingt wie ein vorweggenommenes Urteil. Das Amt selbst antwortet nicht auf Fragen zur Causa R.: Datenschutz. Die Firma will nicht, dass darüber gesprochen wird.

Beim Arbeitsgericht sind zwei Verfahren anhängig. Zunächst hat R. seinen Arbeitgeber auf Weiterbeschäftigung und Lohnnachzahlung verklagt, dann wegen der Kündigung. Zwei Gütetermine scheitern, es dauert ganze 18 Monate, ehe die Parteien sich zur ersten echten Verhandlung treffen.

War das Arbeitsverbot rechtens? War und ist R. seit August 2012 wirklich arbeitsunfähig? Ein vom Gericht bestellter unabhängiger Gutachter widerspricht dem Betriebsarzt: R. sei sehr wohl arbeitsfähig, zumindest als thermischer Spitzer, als der er in dem Unternehmen zuletzt tätig war.

Die Richterin erklärt den Firmenchefs, dass sie in diesem Verfahren schlechte Karten haben, aber auch, dass ein weiteres Miteinander in dieser "total verfahrenen Situation" wohl nicht sinnvoll wäre. Sie eröffnet den Basar. 130 000 Euro fordert R.s Anwalt Wolfgang Ertel als Lohnnachzahlung und Abfindung.

Die Richterin eröffnet den Basar

Nein, geht gar nicht, sagen die Firmenchefs, zwei Brüder: Maximal 70 000 Euro, mehr könne der Betrieb mit seinen mehr als 100 Mitarbeitern nicht verkraften. Die Chefs beteuern, mit ihrem Arbeiter R. immer zufrieden gewesen zu sein. Nur aus Fürsorge hätten sie ihn nicht mehr arbeiten lassen, und nun sollen sie dafür "bestraft" werden. Sie empfinden das alles als ungerecht.

100 000 Euro lägen in der Mitte, rechnet die Richterin vor. Die Chefs schütteln den Kopf. 90 000? "Das können wir nicht machen", so gut gehe es der Firma nicht. 80 000 vielleicht? Erneut Pause. Jetzt schüttelt Anwalt Ertel den Kopf: "Nicht unter 90 000." Der Deal droht zu scheitern, die Richterin bittet beide Parteien: "Jetzt sind Sie so weit aufeinander zugegangen." Dann willigen die Chefs doch in 90 000 Euro Abfindung ein. R. ist froh.

Als der Basar schließt, sind grundlegende Fragen noch immer unbeantwortet: Welche Behörde ist für einen Schwerbehinderten zuständig, der ohne Kündigung einfach nicht mehr rein gelassen wird in seinen Betrieb? Ist es ein Kündigungsgrund, wenn die Presse Fragen stellt zu so einem Fall? Muss ein Schwerbehinderter, für dessen Arbeitsverhältnis sich ein Journalist interessiert, damit rechnen, dass das Integrationsamt seinem Rauswurf zustimmt?

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