30 Jahre "Das Gedicht":Ewig in Bewegung

30 Jahre "Das Gedicht": 30 war er, als er die erste Ausgabe seiner Lyrik-Anthologie vorbereitete. Heute ist Anton G. Leitner 61 und hat sich "durch viele Täler gekämpft".

30 war er, als er die erste Ausgabe seiner Lyrik-Anthologie vorbereitete. Heute ist Anton G. Leitner 61 und hat sich "durch viele Täler gekämpft".

(Foto: Peter Boerboom)

Der Weßlinger Dichter und Verleger Anton G. Leitner gibt seit 30 Jahren die Lyrik-Anthologie "Das Gedicht" heraus - weder gesundheitliche Krisen noch finanzielle Durststrecken können seine Leidenschaft bremsen.

Von Sabine Reithmaier, Weßling

Es braucht einen langen Atem, um 30 Jahre eine Lyrik-Anthologie herauszugeben. Einfach war es nie, doch Anton G. Leitner, der pfiffige Poet und Verleger aus Weßling, hat es immer rechtzeitig geschafft, "Das Gedicht" erscheinen zu lassen. Gerade arbeitet er an der Jubiläumsausgabe; eine gute Gelegenheit, ihn zu fragen, ob sich an seiner Arbeit in den 30 Jahren etwas verändert hat.

Viel, sagt Leitner, sehr viel. 30 Jahre war er alt, als er die erste Ausgabe mit seinem Dichterkollegen Ludwig Steinherr vorbereitete. "Jetzt bin ich 61, ein eher alter Mann, der von Krankheiten heimgesucht worden ist und sich durch viele Täler gekämpft hat." Nach Lungenembolie (2018) und Herzinfarkt (2019) hat er 26 Kilogramm abgenommen - "daher bin ich immerhin wieder dasselbe Fliegengewicht wie seinerzeit". Weil er mit derselben Ernsthaftigkeit, mit der er sich Jahrzehnte ausschließlich der Lyrik zuwandte, jetzt seinen Körper trainiert, fühlt er sich wieder ziemlich fit. Er rege sich auch nicht mehr so schnell auf wie früher, sagt er. Ein Wutanfall pro Jahr reicht jetzt.

Weniger umtriebig ist er deshalb nicht geworden. Friedrich Ani charakterisierte Leitner einmal als Perpetuum mobile aus Fleisch und Blut, das nur um eines kreist: die Literatur. Die Beschreibung passt bis heute. Ohne diese kreative Unruhe wäre es ihm vermutlich nicht gelungen, jedes Jahr die buchdicke Zeitschrift für "Lyrik, Essay und Kritik" herauszugeben. Dass er für sein Engagement in diesem Jahr endlich mit zwei Preisen, dem Deutschen Verlagspreis des Bundes sowie einer Verlagsprämie des Freistaats, geehrt worden ist, nachdem er, abgesehen vom Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung, jahrzehntelang keine Auszeichnung erhielt, empfindet er als ausgleichende Gerechtigkeit.

Doch nicht nur er, auch sein Spezialgebiet hat sich verändert. Die Lyrik sei vielfältiger geworden, sagt er. In seinen ersten Jahren - ob als Dichter oder als Verleger - war der Reim verpönt. Angesagt war die neue Subjektivität, "komplexe, gelegentlich etwas verschwurbelte Lyrik". Dann kam die Spoken-Word-Bewegung, die Sprache wurde einfacher, klarer, der Reim kehrte zurück. Im "Gedicht" legt Leitner großen Wert darauf, alle aktuellen Strömungen zu versammeln, bekannte neben unbekannte Namen zu stellen, einen Generationen-Mix zu bieten. In der neuen Ausgabe vereint er sogar 258 Poeten und Poetinnen aus 15 Nationen, mehr als jemals zuvor.

Die "Geilen Gedichte" kamen sackweise nach Weßling zurück

Was ihm an manchen Tagen die inhaltliche Arbeit verleidet, ist die Überbürokratisierung. Die Verbreitung der Poesie werde immer komplizierter, inzwischen sei sogar vorgeschrieben, ob, wie und wann ein Abonnement verlängert werden darf. "Ich fühle mich manchmal als halber Beamter", sagt Leitner. "Nur ohne dessen versorgungstechnische Sicherheiten." Dabei hat er seinen Beamtenjob kurz vor dem zweiten Staatsexamen als Jurist aufgegeben, um sich ganz seiner Leidenschaft, der Lyrik, zu widmen.

Seinen Verlag gründete er im Jahr 1992. Da das Drucken von Gedichten nicht zum Überleben reichte, entwickelte er sich zum Meister im Aufspüren zusätzlicher Einnahmequellen, gab Schülerlernhilfen heraus, bot Lektorats-Service und Lyrikwerkstätten an. Und schaffte es im Laufe seiner Verlegerkarriere mit seinen Themenheften gleich mehrmals, hitzige Debatten über Poesie auszulösen. Ganz wunderbar mit Heft 7, in dem er eine "Liste der Jahrhundertdichter" präsentierte. X-fach nachgedruckt, wurde diese in diversen Talkshows diskutiert. Noch heftiger fielen die Reaktionen auf das "Erotik-Spezial" im Jahr 2000 aus. Die "Geilen Gedichte" kamen sackweise nach Weßling zurück, weil die Buchhändler die Annahme verweigerten. Als die Presse darüber berichtete, war die erste Auflage, 3000 Stück, sofort vergriffen. Auch der Heiligenschein, den er im Jahr darauf den "heiligen Gedichten" beilegte, sorgte für Unruhe. Doch die Debatten bescherten ihm nicht nur hohe Auflagen, sondern auch Aufträge für Lyrik-Anthologien, die er für andere Verlage editierte.

Die Funktion der Lyrik in Krisenzeiten sei wichtiger denn je

Nachdrucken muss Leitner längst nicht mehr, Gedichte liefern in Talkrunden nur selten Gesprächsstoff. Ein Fehler, findet der Weßlinger. Die Funktion der Lyrik in Krisenzeiten sei schließlich wichtiger denn je. Für seine Jubiläumsausgabe hat er ausnahmsweise kein Thema gesetzt, der Titel lautet schlicht "#30: Offen". "Ich wollte sehen, was kommt, wenn ich nichts vorgebe", begründet er seine Entscheidung. So viel Offenheit hat Tücken. Er erhielt fast 5000 Einsendungen, erheblich mehr als sonst, "manche haben wohl einfach in die Schublade gegriffen". Leitner arbeitete sich in alphabetischer Reihenfolge durch zehn prall gefüllte Leitzordner. "Beim Buchstaben d war ich am Verzweifeln, weil die meisten Texte so plakativ waren", erinnert er sich. Doch dann kamen die ersten Texte, die er großartig fand. Durs Grünbeins "Entsetzen" zum Beispiel. "Wir sahen es nicht als es längst nah / als es schon fast auf der Schwelle war / es zeigte noch nicht sein Gesicht / auch wußten wir nicht / wie wir es nennen sollten..."

Der Krieg in der Ukraine berührt viele Autoren tief. Ron Winkler zeigt sich in "Finistère" ratlos. "Nach all den Tagen kann ich immer noch nicht sagen, / wie groß ein Gedicht sein muss für das./ Das Barbarische, das Unmenschliche, das Perverse, das Perfide. / Ein Gedicht? Für das? ..." Ursula Wieser hingegen ergreift die Flucht. "Ich lese alte Krimis, / in denen das Gute die Oberhand behält und die Gerechtigkeit./ Whodunit. Vermutlich ist das der Grund,/ warum ich so oft weine."

Aber keine Sorge, es gibt genügend Gedichte, die nicht deprimieren. "Ein Zuviel würde einer Ausgabe, die 30 Jahre Schaffen rund um die Poesie krönen soll, nicht gerecht." Jan Wagner besingt beispielsweise den "Grünen Spargel", Nora Gomringer liefert 17 witzige Gestaltungsvorschläge für den Deutschen Biennale-Pavillon in Venedig, und Karl Krieg macht sich Gedanken über die Auswirkungen politischer Wechsel. "Die Kanzlerin ist nun vom Acker / wir suchen Reime jetzt auf Scholz... /

180 Seiten umfasst der Lyrikteil, es folgen noch drei Essays zum "Marathon der Poesie". "Vielleicht hätte ich die Ausgabe dünner machen sollen", sinniert Leitner. Dabei hat er ohnehin zum ersten Mal in der Geschichte des "Gedichts" die Lyrik für Kinder ausgekoppelt. Das "Special for Kids", das Uwe-Michael Gutzschhahn 2016 initiierte und seither betreut, erscheint als eigener Teil.

Den 30. Geburtstag feiert Leitner mit einer Poesie-Festlesung im Lyrik Kabinett, begleitet von mehr als 20 Weggefährten. Ludwig Steinherr ist dabei und Friedrich Ani, der die ersten Gedichte des Poeten Leitner gnadenlos verriss. Oder Gabriele Trinckler, die Leitner seit Jahren in der Verlagsarbeit unterstützt. Und viele, viele andere. Ans Aufhören denkt der Verleger übrigens nicht. Einige Jahre möchte er seinen "Poesiedampfer" (Leitner) schon noch herausgeben, sagt er. "Aber nur mehr dünnere Ausgaben."

Das Gedicht. Jubiläumsausgabe #30: offen. Poesie-Festlesung zum 30. Geburtstag des Lyrikmagazins, 8. November, 19 Uhr, Lyrik Kabinett.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: