Rechte Gewalt:Ein kleiner Zeugenschutz gegen die hohe Dunkelziffer

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  • Drei von vier antisemitische Vorfälle in Deutschland werden nie bekannt.
  • Damit mehr Straftaten angezeigt werden, soll Betroffenen die Angst genommen werden: für sie gibt es nun eine Art kleinen Zeugenschutz.
  • Wer gefährdet ist oder bedroht wird, kann bei der Anzeige eine andere Adresse als die eigene angeben, etwa die einer Opferhilfeeinrichtung.

Von Martin Bernstein

Du gehörst doch vergast ...", schreit der Mann in der S-Bahn einen Fahrgast an. Sein Gegenüber hat dunklere Hautfarbe. Andere Passagiere gehen dazwischen: Er solle die Beleidigungen sofort unterlassen und sich entschuldigen, fordern sie. Da tritt der Hetzer zu, trifft einen der Passagiere. Der ruft die Polizei, die den 58 Jahre alten Täter in Baierbrunn festnimmt. Ein Vorfall vom Montagabend.

In diesem Fall hat alles funktioniert: Fahrgäste sind dazwischen gegangen, ein Opfer hat die Polizei gerufen, die konnte den Täter festnehmen. Doch oft werden rassistische, antisemitische oder andere rechte Straftaten erst gar nicht angezeigt. Offenbar machen Menschen, die judenfeindliche Straftaten anzeigen wollen, immer wieder negative Erfahrungen mit der Polizei. Das geht aus einer bayernweiten Studie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) vom vergangenen Jahr hervor.

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Befragte berichten, sie seien unzufrieden "mit den Reaktionsweisen der Polizei in Notfallsituationen, mit den Ergebnissen oder der Aufnahme von Ermittlungsverfahren" gewesen. Das Anzeigeverhalten bei derartigen Straftaten sei nicht stark ausgeprägt, heißt es in der Studie. Befragte berichteten sogar, "dass ungewöhnlicherweise auch die Polizei resigniert und von Anzeigen abgeraten habe". Außerdem haben Betroffene oft Angst, durch die Anzeige selbst gefährdet zu werden. Dann nämlich, wenn Name und Adresse in den Ermittlungsakten stehen und damit auch dem Angreifer bekannt werden.

"Es ist unerträglich, wenn Opfer sich nicht trauen, zur Polizei zu gehen", sagt Oberstaatsanwalt Andreas Franck. "Das darf nicht sein - da mussten wir etwas machen." Zusammen mit dem Münchner Polizeivizepräsidenten Norbert Radmacher hat der Antisemitismus-Beauftragte der Generalstaatsanwaltschaft deshalb am Mittwoch das "Münchner Modell" vorgestellt. Einer der Bausteine dieses Modells liegt auf dem Tisch im Medienzentrum des Präsidiums: ein zweiseitiger Flyer. Auf Deutsch, Hebräisch, Arabisch, Englisch und Französisch wendet er sich an Geschädigte rechter, rassistischer oder antisemitischer Straftaten.

"Im Zweifelsfall immer Anzeige erstatten"

86 strafbare Fälle von Judenhass registrierte die Münchner Polizei vergangenes Jahr, darunter eine Serie von 33 Briefen mit antisemitischen und islamfeindlichen Morddrohungen - gegen Kindergartenkinder. Im Jahr zuvor waren 51 antisemitische Delikte in der Kriminalstatistik verzeichnet, 2015 waren es noch 24. Die Tendenz ist steigend, auch in anderen Bereichen der Hasskriminalität. Fast immer kommen die Täter aus dem rechten Spektrum. 33 rechts motivierte Gewalttaten registrierte die Münchner Polizei 2018, außerdem 197 Fälle von Volksverhetzung, Nötigung, Bedrohung und Sachbeschädigung, die auf das Konto rechtsradikaler Täter gehen.

Seit den rassistischen Ausschreitungen von Chemnitz Ende August, gibt es eine auffallende Zunahme rechter Gewalttaten auch in München. 32 derartige Fälle tauchten seitdem in den Polizeiberichten auf. Die Häufung sei einer der Gründe gewesen, sagt Radmacher, sich mit Staatsanwaltschaft, Stadt, Israelitischer Kultusgemeinde (IKG) und dem Verein "Before", der Betroffene rechter Gewalt unterstützt, zusammenzusetzen. Herausgekommen ist eine Initiative, die von der IKG als "klare Verbesserung" begrüßt wird.

Denn der Flyer soll zum einen Opfer und Zeugen ermutigen, jeden Vorfall anzuzeigen. "Wir wollen keine Dunkelziffer", sagt Oberstaatsanwalt Franck. Drei von vier antisemitischen Vorfällen in Deutschland werden nie bekannt. Deshalb soll Betroffenen die Angst genommen werden - durch einen "kleinen Zeugenschutz", wie Radmacher es nennt. Wer gefährdet ist oder bedroht wird, kann eine andere Adresse als die eigene angeben, etwa die einer Opferhilfeeinrichtung. Von der Initiative soll auch ein Signal an rechte Straftäter, antisemitische Hetzer und prügelnde Rassisten ausgehen: "Wir nehmen das ernst", so Franck.

Seit Anfang April gibt es die Rias-Meldestelle für Bayern. Dort werden auch Vorfälle erfasst, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Im Schnitt einer pro Tag. "Im Zweifelsfall immer Anzeige erstatten", raten die Vertreter von Polizei und Staatsanwaltschaft. Damit das gelingt, müssen freilich auch die Polizisten in den Inspektionen sensibilisiert sein. Das gehöre selbstverständlich dazu, hieß es am Mittwoch. Und: In jeder Inspektion gebe es einen Beamten für Staatsschutzdelikte.

© SZ vom 09.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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