Antisemitismus in München:Judenhass mit System

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Holocaust-Verharmlosungen auf Corona-Demos der Querdenken-Bewegung waren immer wieder zu sehen - so wie bei diesem Teilnehmer einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen, der eine Armbinde mit einem gelben Stern mit der Aufschrift "Ungeimpft" trug. (Foto: Christophe Gateau/dpa)

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern dokumentiert Hunderte "Angriffe auf die Erinnerung". Pandemie-Leugner und Feinde Israels instrumentalisieren Schoah und Gedenkkultur.

Von Martin Bernstein

Ein Security-Mitarbeiter zeigt israelischen Sportlern, die auf dem Weg zu Gedenkorten für das Olympia-Attentat von 1972 sind, öffentlich den Hitlergruß. Ein Redner vergleicht bei einer Kundgebung auf dem Münchner Marienplatz Israel mit Nazi-Deutschland und behauptet unter Applaus, "wer heute pro Israel ist, der wäre im letzten Jahrhundert pro Drittes Reich gewesen". In der Tengstraße in München wird in das Erinnerungszeichen für die in Theresienstadt ermordete Mina Bergmann ein Hakenkreuz geritzt, das Todesmarsch-Mahnmal an der Münchner Blutenburg wird geschändet.

Mehr als die Hälfte aller in München und im übrigen Freistaat Bayern dokumentierten antisemitischen Vorfälle hat einen Bezug zum Holocaust: Der sogenannte Post-Schoah-Antisemitismus ist laut der Recherche- und Informationsstelle Rias "die ausgeprägteste Erscheinungsform des Antisemitismus in Bayern". Diese "Angriffe auf die Erinnerung" sind laut Rias-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı "wesentliche Voraussetzung für das Leugnen wie auch das Ausleben von Antisemitismus heute". Am Mittwoch stellte sie eine Broschüre vor, die derartige Vorfälle dokumentiert und analysiert, darüber hinaus aber einen umfassenden Überblick auf den Post-Schoah-Antisemitismus in der Bundesrepublik und in Bayern seit 1945 gibt.

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Seit 2019 dokumentiert Rias Bayern antisemitische Vorfälle im Freistaat. Als Post-Schoah-Antisemitismus wurden in diesen dreieinhalb Jahren drei Angriffe, 35 gezielte Sachbeschädigungen, 16 Bedrohungen, 79 Massenzuschriften und 437 Fälle verletzenden Verhaltens klassifiziert. 183 Mal waren es öffentliche Versammlungen, auf denen in Reden, Sprechchören oder auf Plakaten der Holocaust relativiert wurde. 120 Fälle konnten dem verschwörungsideologischen Milieu und 107 Fälle dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden. 307 derartige Vorfälle wurden aus Oberbayern bekannt.

Bayernweit haben 235 Fälle einen Bezug zur Corona-Pandemie

Insgesamt 249 judenfeindliche Vorfälle hat Rias, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern, allein im Jahr 2021 in München dokumentiert. Drei davon waren Angriffe, zwei gezielte Sachbeschädigungen, zehn Bedrohungen und zwölf Massenzuschriften. 22 dieser Vorfälle wurden auch bei der Polizei angezeigt.

Bayernweit haben 235 Fälle von Post-Schoah-Antisemitismus laut Rias einen Bezug zur Corona-Pandemie. Hierbei handelte es sich um eine gezielte Sachbeschädigung, drei Bedrohungen, acht Massenzuschriften sowie 223 Fälle verletzenden Verhaltens. Das bestätigt Miriam Heigl, die Leiterin der Fachstelle für Demokratie der Stadt München: "Im Kontext der Corona-Pandemie, aber auch des russischen Angriffskriegs sehen wir auch in München immer häufiger bei Versammlungen eine Relativierung des Holocausts und eine zunehmende Erinnerungsabwehr bezüglich der Schoah."

Auf einem Plakat bei einer Impfgegner-Veranstaltung war im Dezember das Wort "Spritzenholocaust" zu lesen, auf einem anderen das Eingangstor zum KZ Theresienstadt zu sehen mit dem Text "Impfen macht frei". Der Schoah-Überlebende Abba Naor, Vizepräsident des Comité International de Dachau (CID), zeigt sich im Vorwort zu der Rias-Broschüre erschüttert über "das aktuelle Anwachsen judenfeindlicher Einstellungen in der deutschen Gesellschaft, nicht zuletzt auch bei den Corona-Protesten, auf deren Nährboden die alten Verschwörungsmythen gedeihen".

Seit Beginn der Pandemie attackieren Impfgegner immer wieder die KZ-Gedenkstätte

Die Rias-Broschüre erinnert daran, dass 2019 der wegen Holocaust-Leugnung verurteilte Videoblogger Nikolai Nerling hinter dem Dachauer Gedenkstättengelände ein Video gegen den vermeintlichen deutschen "Schuldkult" drehte und darin sagte: "Geht zu Gedenksteinen, geht zu Lagern und sagt, dass ihr euch nicht schuldig fühlt. Für ein freies Deutschland und gegen den Schuldkult." Seit Beginn der Pandemie attackieren Corona-Leugner und Impfgegner immer wieder die KZ-Gedenkstätte vor den Toren Münchens. Etliche Besucherinnen und Besucher vergleichen laut Rias die Pandemie-Maßnahmen mit Naziverbrechen, setzen sich selbst mit verfolgten NS-Opfern gleich und missbrauchen so das ehemalige Konzentrationslager für ihre eigene Ideologie. Auch in verschwörungsideologischen Münchner Telegram-Gruppen finden sich zahlreiche Beispiele dafür - bis hin zu Solidaritätsadressen für die rechtskräftig verurteilte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck.

Staatsanwälte und Gerichte gehen inzwischen konsequent gegen judenfeindliche Volksverhetzung vor. Im März verhängte das Münchner Amtsgericht eine Geldstrafe wegen Volksverhetzung zu 130 Tagessätzen à 15 Euro. Gegenstand des Prozesses waren eine Fotomontage mit der Aufschrift "Arbeit/Impfen macht frei" und zwei gezeichnete überdimensionierte Spritzen. Am vergangenen Freitag veranstaltete der Antisemitismusbeauftragte der Bayerischen Justiz, der Münchner Oberstaatsanwalt Andreas Franck, den ersten Workshop zu antisemitischen Straftaten in Bayern und Österreich. 20 Expertinnen und Experten aus Bayern und Österreich sowie der EU-Kommission berieten in den Räumen des Generalstaatsanwalts in München, Reinhard Röttle, über die effektive Verfolgung judenfeindlicher Straftaten. Zentrales Thema waren auch dabei Holocaust-Vergleiche bei Corona-Demonstrationen.

Schon mehrfach haben die bayerische Justiz und die österreichischen Sicherheitsorgane erfolgreich zusammengearbeitet. Im Februar durchsuchten Beamte der Staatsanwaltschaft Traunstein und der Kriminalpolizei die Wohnung eines 59-jährigen Rosenheimers, der im Verdacht stand, auf Social-Media-Kanälen vielfach den Holocaust geleugnet und zur "Jagd" auf die Regierung aufgerufen zu haben. Dem lag ein Hinweis des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung in Tirol zugrunde. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen Österreicher, der in Mails auch an Adressaten in München fordert, "rassistische Israelis" - gemeint sind Juden - aus der europäischen Politik, aus Universitäten und Medien zu verbannen, und der Zionisten als "Nazis" bezeichnet.

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