Auch wenn es eigentlich um die Vergangenheit gehen sollte, kann man die Gegenwart nicht ausblenden. Während die Besucher am Dienstagabend ins jüdische Gemeindezentrum am Münchner St.-Jakobs-Platz strömten, wechselten sich auf der riesigen Leinwand Bilder aus der Ukraine ab, die Leid und Elend zeigten: Menschen auf der Flucht und zerstörte Gebäude. Charlotte Knobloch bat um Unterstützung für Flüchtlinge aus der Ukraine, um die sich die Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern, aber auch Initiativen wie die Europäische Janusz Korczak Akademie kümmern.
Auch jetzt seien wieder Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, sagte die Präsidentin der Kultusgemeinde, und spannte so den Bogen zum Anlass des Abends, der Präsentation des neuen Buches von Rafael Seligmann. Im letzten Band seiner Trilogie geht es um "Rafi, Judenbub" - so lautet auch der Titel dieses Werkes, in dem es um die Erfahrungen nach der Rückkehr nach Deutschland geht. Die Seligmanns waren eine jener Familien, die trotz der Shoah nach 1945 in Deutschland leben wollten, auch wenn viele damals gedacht hätten: "Jüdische Menschen und Heimat, das könnte eigentlich nicht mehr zusammen gehen", wie Knobloch bei ihrer Einführung sagte.
Keine klassische Biografie
Im Mittelpunkt dieses Buches steht Autor Rafael Seligmann selbst, sein Aufwachsen in München in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Aber es ist keine klassische Biografie, denn in dem Band wechseln sich die Schilderungen jeweils aus der Sicht des Vaters, der Mutter und des Sohnes ab. Im ersten Band "Lauf, Ludwig, lauf!" ging es um Kindheit und Jugend von Ludwig Seligmann im bayerischen Ichenhausen und seine Flucht vor den Nazis. Der zweite Band "Hannah und Ludwig" dreht sich um den Neuanfang und das Scheitern in Palästina - erzählt aus den unterschiedlichen Perspektiven des Paares.
Als sein Vater entschied, doch wieder nach Deutschland zurückkehren zu wollen, war Rafael Seligmann zehn Jahre alt. Für seinen Vater war Deutschland trotz seiner Erfahrungen und der erzwungenen Flucht Heimat. Mit der Rückkehr verband er die Hoffnung, hier geschäftlich und gesellschaftlich wieder Fuß fassen zu können. Seine Frau Hannah kam nur widerwillig mit und viele Erfahrungen, die insbesondere ihr Sohn Rafi machen musste, bestätigten ihre Befürchtungen über den weiter vorhandenen Antisemitismus in Deutschland.
Antisemitische Klischees in der Schule
Gleich in seiner ersten Schule in der Klenzestraße in München war Rafi der "Judenbub", dem der Schuldirektor "jüdische Intelligenz" bescheinigte. Der Lehrer setzte im Unterricht nicht nur regelmäßig einen Rohrstab, den sogenannten Tatzenstecken, ein. Er gab auch den jüdischen Schülern mit auf den Weg, sie müssten gut rechnen lernen, "um deutsche Kunden zu übervorteilen".
Nachdem Rafael Seligmann von den Mitschülern heftig verprügelt worden war, beschwerte sich seine Mutter beim Schuldirektor, der so reagierte: "Hinaus! Nehmen Sie Ihren Judenbuben und verschwinden Sie nach Palästina! Auf der Stelle!" Die mutige Mutter beschwerte sich daraufhin beim Münchner Stadtschulrat. Anton Fingerle reagierte prompt und maßregelte den Pädagogen. Er versicherte Frau Seligmann, dass die jüdischen Mitbürger "hoch willkommen" seien.
Er sei froh, dass es auch dieses Verhalten gegeben habe, sagte Christian Ude. Mehrfach stellte der frühere Münchner Oberbürgermeister bei der gemeinsamen Präsentation fest, dass er und Seligmann - beide Jahrgang 1947 - offenbar in zwei verschiedenen Welten in München aufgewachsen seien. Er, Ude, habe den Begriff Judenbub nie gehört. Wenn dann habe es geheißen, ein Mitschüler sei "mosaischen Glaubens". Erst im Geschichtsunterricht habe er mehr erfahren - auch, wie Deutschland zu einem Unrechtsstaat geworden sei. "Komisch, in meinen Klassen hörte der Geschichtsunterricht rund um 1930 auf", warf Seligmann lakonisch ein. Allerdings habe er später, in der Herrnschule, positive Erfahrungen gemacht, dort habe der Direktor die Prämisse ausgegeben, es gebe keine Katholiken, Protestanten oder Juden, sondern "nur Menschen".
Aber auch an der Universität München, wo Seligmann Politikwissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut studierte, erlebte er Antisemitismus. So las der Autor eine Szene aus dem Buch vor, in der er schildert, wie ihn ein Professor behandelt hatte. Der Mann bediente sich antisemitischer Klischees und hatte ihn mit der Aussicht auf den Magister geködert - um dann die Arbeit, an der Seligmann ein Jahr gesessen war, abzulehnen.
Vorschlag zur Umbenennung des Zentralrates
Seligmann schilderte an diesem Abend Begegnungen, wie sie für viele deutsche Juden auch jetzt noch alltäglich sind. Dass sie sich rechtfertigen müssten etwa für das Vorgehen der israelischen Regierung gegen Palästinenser. Frank-Walter Steinmeier, damals Chef des Auswärtigen Amtes, habe ihn einmal darauf angesprochen, wie er zu Aussagen seines Außenministers stehe - gemeint war der israelische Ressortchef. "Ich habe ihm gesagt: Bisher war ich der Meinung, Sie sind mein Außenminister", beschrieb Seligmann die damalige Begegnung. Einmal brandete Beifall auf, als Seligmann vorschlug, den Zentralrat der Juden in Deutschland umzubenennen und damit den Fokus zu verschieben: in Zentralrat der deutschen Juden.
Seine Romantrilogie ist auch viel mehr als eine Familiengeschichte - es ist eine biografisch gefärbte seismografische Beschreibung des Verhältnisses von Juden und Nicht-Juden. Am Ende seines letzten Bandes offenbart Seligmann, dass die Lebenserinnerungen seines 1975 verstorbenen Vaters sein Antrieb für das Schreiben waren. Wie aktuell die Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung und der Frage ist, was Heimat eigentlich bedeutet, wird in diesen Wochen erschreckend deutlich.