„Es ist der pure Hass.“ Talya Lador-Fresher ist israelische Generalkonsulin in München. Auf das Konsulatsgebäude verübte ein mit einem Gewehr bewaffneter mutmaßlicher Islamist am 5. September einen Terroranschlag. Im Mai warf jemand eine Flasche über den Sicherheitszaun – mit einer Kugel darin. Eine Drohung? Seit dem 7. Oktober gehören Drohungen und Beschimpfungen für die Generalkonsulin und ihr Team zum Alltag. Hunderte antisemitische Kommentare und Nachrichten haben sie mittlerweile erhalten.
Insgesamt 527 Fälle von israelbezogenem Judenhass hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern seit der mörderischen Terrorattacke der islamistischen Hamas auf den jüdischen Staat registriert. In den ersten sechs Monaten. Die Welle ebbt seither nicht ab, sagt Leiterin Annette Seidel-Arpacı. Doch Rias kommt mit dem Dokumentieren der gemeldeten Fälle kaum hinterher.
Rund um den Jahrestag des Terroranschlags wird sich das wohl nicht ändern – im Gegenteil. Mit nahezu jeder Kundgebung nimmt die Zahl der antisemitischen Vorfälle zu. An nur eine propalästinensische Mahnwache kann die Rias-Leiterin sich erinnern, bei der das nicht der Fall gewesen sei. Insgesamt 127 Versammlungen sind bayernweit für den Zeitraum bis April dokumentiert, bei denen unter dem Vorwand der „Israelkritik“ judenfeindliche Parolen ertönten.
Wo denn der Antisemitismus beginne und die Israelkritik ende, will jemand bei der Präsentation der Zahlen am Montagvormittag im Münchner Presseclub wissen. Eigentlich schon mit dem Begriff „Israelkritik“, denn kaum ein vergleichbares Wort habe es bis in den Duden geschafft, sagt Seidel-Arpacı. Wenn aber doppelte Standards in Bezug auf Israel gelten, wenn der jüdische Staat delegitimiert oder gar dämonisiert wird – dann sprechen Experten von israelbezogenem Antisemitismus, der mit legitimer Kritik an der Politik der israelischen Regierung nichts mehr zu tun habe. Oder wie es der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn formuliert: „Die Personen kommen und gehen, der Antisemitismus bleibt.“
Bitter klingt es, wenn Wolffsohn die Rias-Zahlen mit der Einsicht kommentiert, unhinterfragtes, normales jüdisches Leben sei eben nur im jüdischen Staat möglich. Eine Beschreibung sei das, sagt er auf Nachfrage – und ergänzt dann doch: „Wenn Sie so wollen: Ja, das ist ein Appell.“ So wichtig alle Bemühungen gegen Antisemitismus in Deutschland seien, am Ende seien sie offenbar „völlig vergeblich“. Jüdisches Leben außerhalb Israels sei „Existenz auf Widerruf“.
In einer 140-seitigen Broschüre hat Rias Fälle von israelbezogenem Antisemitismus in Bayern seit dem 7. Oktober dokumentiert. Viele davon waren bisher nicht bekannt. So etwa, dass am 15. Februar die Rede eines jüdischen CEO eines US-amerikanischen Softwareunternehmens im Audimax der Technischen Universität München von propalästinensischen Aktivisten gestört wurde. Oder die Rufe „Khaybar khaybar ya yahud“ am 13. Oktober in der Münchner Innenstadt, die sich auf ein historisches Massaker an den Juden einer arabischen Wüstenoase beziehen.
„Verbale Gewalt führt zu mörderischen Angriffen“, sagt Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf
Wurden vor dem 7. Oktober durchschnittlich sieben derartige Vorfälle pro Monat an Rias gemeldet, ist die Zahl danach sprunghaft auf 88 Fälle pro Monat angestiegen. Diese Zunahme habe nicht erst mit der israelischen Militäraktion in Gaza begonnen, sagt Seidel-Arpacı. Sondern unmittelbar mit Bekanntwerden der Hamas-Attacke. Registriert wurden in den ersten sechs Monaten fünf direkte Angriffe, zwölf gezielte Sachbeschädigungen, 19 Bedrohungen, elf Massenzuschriften und 480 Fälle, die als „verletzendes Verhalten“ bewertet wurden.
Also Parolen, Beleidigungen, Hetze. „Verbale Gewalt führt zu mörderischen Angriffen“, sagte am Montag Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf zu den „ungeheuerlichen Zahlen“. Diese müssten „mehr als ein Warnzeichen sein“, so die CSU-Politikerin unter Verweis auf den Münchner Anschlagsversuch vom 5. September. „Jetzt hat die Stunde der Repression geschlagen“, sagte auch Ulrich Fritz, Mitarbeiter im Büro des bayerischen Beauftragten gegen Antisemitismus, Ludwig Spaenle.
Kurz vor der Präsentation der Rias-Zahlen veröffentlichte die Münchner Gruppierung „Palästina spricht“ auf Instagram einen Post, in dem die von Selbstmordanschlägen geprägte „zweite Intifada“ als „Opferbereitschaft“ verklärt und der Staat Israel als „zionistische Entität“ delegitimiert wird. Eine Kundgebung derselben Gruppierung am Samstagnachmittag in der Münchner Innenstadt war überschrieben mit „Stoppt den zionistischen Terror“. Zionismus, hieß es dort, sei ein Kolonialprojekt zur Sicherung der weißen Vorherrschaft. Gemeint war der Staat Israel.