Antiquariat:Der Herr der hunderttausend Bücher

Diebesgut aus Wiener Adelskreisen, erotische Briefe von König Ludwig II.: Karl Hartung ist seit 75 Jahren Antiquar und weiß über sein Berufsleben echte Krimis zu erzählen. Am Samstag wird er 90 Jahre alt.

Von Wolfgang Görl

Antiquar - das klingt nicht nach einem aufregenden Leben. Das klingt, lässt man seine Studentenzeit Revue passieren, nach graugesichtigen Herren, die inmitten von Wällen übereinander gestapelter Bücher ein sonnenloses Dasein fristen, dessen wesentliche Bestimmung die Versorgung der Studierenden mit billiger Lektüre zu sein scheint.

Falsch, ganz falsch. Wir haben sie verkannt, die Second-Hand-Buchhändler. Wie anders ist die Wirklichkeit, jedenfalls jene, die uns in der Gestalt Karl Hartungs entgegentritt, der - das ist jetzt kein Tippfehler - seit 75 Jahren den Beruf des Antiquars ausübt und darüber veritable Krimis zu erzählen weiß.

Einmal zum Beispiel ist ihm von einem Mann aus Wien ein Posten Bücher und Grafiken angeboten worden; wertvolle Stücke waren darunter, weiß der Himmel, wo er die her hatte. Als Hartung sie genauer untersuchte, fiel ihm eine Beschriftung auf, die auf eine berühmte Sammlung hinwies.

Recherche in Wiener Adelskreisen

Was folgte, war eine feinstes diplomatisches Fingerspitzengefühl erfordernde Recherche in Wiener Adelskreisen, die zum Ergebnis hatte: All die schönen Dinge waren Diebesgut.

Während Karl Hartung das erzählt, hinter einem altenglischen Schreibtisch sitzend, frühes 19.Jahrhundert mit grüner Lederauflage, verhakt er seine Daumen hinter den Hosenträgern, zieht an den Gummibändern, so wie das resolute Barkeeper in Western-Filmen tun, was zusammen mit einer generellen Lebhaftigkeit den Eindruck nie versiegender Energie erweckt.

Dann hält es ihn nicht mehr auf dem Sitz, er muss ein Buch vorzeigen, eines, das im obersten Regal steht, dafür klettert er auf einen Polsterstuhl. Ein Bein steht auf der Armlehne, eine Akrobatennummer ist das, man möchte gar nicht hinsehen.

Der Herr der hunderttausend Bücher

Waren wir nicht gekommen, um einem Manne zu begegnen, der am morgigen Samstag 90 Jahre alt wird? Kann das derselbe sein, der hier auf Stühlen herumturnt? Nach allem, was wir wissen, handelt es sich tatsächlich um Karl Hartung, Antiquar und Auktionator, Seniorchef des Auktionshauses "Hartung&Hartung", Karolinenplatz.

Geboren in Bad Ischl am 4.September 1914: Bad Ischl war die Sommerfrische des Kaisers Franz JosephI., und als Karl auf die Welt kam, hatte gerade der Große Krieg begonnen, in dem Kakanien unterging und das übrige Europa der Monarchien dazu.

"Das ist ein bissl kompliziert"

Karls Familie, "mein Gott, das ist ein bissl kompliziert", also die Familie war keine im landläufigen Sinn: Der Vater war verheiratet, nein, nicht mit Karls Mutter, das kam erst später. Drei Geschwister hatte Karl, und die Mutter "brachte ein unglaubliches Opfer, die vier Kinder ohne Sozialfürsorge durchzufüttern", vom prekären sozialen Status zu schweigen.

An schöngeistige Dinge war da nicht zu denken, alles war "auf die bloße Lebenserhaltung eingerichtet". 1927 zog man nach Schwabing, in eine Wohnung in der Friedrichstraße11, wo sich auch bald ein gewisser Herr von Faber einrichtete.

Curt von Faber du Faur "war ein vornehmer Pingel, der eine reiche Amerikanerin geheiratet hatte", über Zofe, Köchin, Kammermädchen, Diener und Chauffeur verfügte sowie über eine 100-PS-Limousine. Vor allem aber hatte er eine gewaltige Bibliothek; er war der Spezialist für Barockliteratur, ein Bibliophiler ersten Ranges.

"Komm doch zu mir ins Antiquariat."

Diesem Manne half der kleine Karl, die Bücher einzustellen. "Das muss ihm gefallen haben. Als ich dann einen Beruf ergreifen sollte, hat er gesagt: ,Komm doch zu mir ins Antiquariat.' Ich hab' keine Ahnung gehabt, was das ist."

Das änderte sich im Handumdrehen, denn das Kunst- und Literatur-Auktionshaus Karl&Faber war eine vorzügliche Adresse für einen knapp Fünfzehnjährigen, der den Beruf des Antiquars lernen sollte.

Und überhaupt München: Die Stadt war in den ersten 30 Jahren des 20.Jahrhunderts führend im Handel mit seltenen Büchern. "Da konnten eigentlich nur London und Paris konkurrieren", sagt Hartung. Allein um den Karolinenplatz waren ein Dutzend bedeutende Antiquare angesiedelt, viele davon Juden, die, wenn sie Glück hatten, vor Hitler rechtzeitig geflohen sind.

Der Herr der hunderttausend Bücher

Während der Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre sah sich die Geschäftsführung von Karl&Faber gezwungen, Mitarbeiter zu entlassen; Hartung aber blieb und avancierte zum Mann für wichtige Aufgaben. Als solcher hatte er bald mit einer Sache zu tun, die Bibliophilen wie der Eintritt ins Paradies vorkommen muss:

Der junge Fürst von Oettingen-Wallerstein, der eine gewaltige Erbschaftssteuer zu berappen hatte, ließ die bedeutendsten Bestände seiner Bibliothek versteigern. Eine phantastische Kollektion war das: 160000 Bände und 2000 Inkunabeln, also Drucke aus der Zeit vor 1500.

Georg Karl, der das Auktionshaus inzwischen allein führte, hatte sich beim Fürsten von Offizier zu Offizier empfohlen und bekam den Auftrag. Immer wieder fuhr Karl Hartung nach Maihingen in die fürstliche Hauptbibliothek, wo er die Bestände durchforstete und - nicht ohne die Zustimmung seines Chefs und des Fürsten - auswählte, was später zur Versteigerung gelangte.

Pergamenthandschrift des 14. Jahrhunderts

Enorme Kostbarkeiten kamen unter den Hammer. "Es war schon was Erhebendes, als junger Mensch mit einer solchen Sammlung zu tun zu haben." Eine der Preziosen war eine Rudolf-von-Ems'sche-Weltchronik, eine Pergament-Handschrift des 14.Jahrhunderts mit circa 400 farbigen Miniaturen.

"Deren Geschichte", sagt Hartung, "hab' ich immer parat, wenn die Preisentwicklung im Antiquariat zur Sprache kommt." Mit 12000 Mark hatte man sie 1935 zur Versteigerung ausgerufen, aber niemand meldete sich. Im Anschluss an die Auktion bekundete der Direktor der bayerischen Staatsbibliothek das Interesse seines Hauses, nur möge man ihm 14 Tage Zeit geben, das Geld zusammenzukratzen.

Die Betteltour misslang, stattdessen erwarb ein Altonaer Zahnarzt den Schatz. Der starb nach dem Krieg, seine Witwe aber widerstand bis zu ihrem Tode allen Verlockungen der Münchner, die Weltchronik auf den Markt zu bringen.

Der nächste, der in den Genuss des Besitzens kam, war ein Immobilienmakler, der 350 000 Mark hinblätterte. Dessen Sohn verkaufte die Chronik für mehrere Millionen an das Getty-Museum.

Die Nazi-Zeit, der Krieg. "Das ist wieder eine komplizierte Geschichte." Sein Bruder, erzählt Hartung, war in der Kommunistischen Partei. Ein, zwei Tage, nachdem Hitler an der Macht war, kam um fünf Uhr morgens - Hartung klopft mit den Händen auf den Tisch, um die Schritte zu demonstrieren - die Polizei und verhaftete den Bruder. Ettstraße, Landsberg, zuletzt Dachau, ein ganzes Jahr lang.

Die Familie war aufgefallen, man observierte sie, "wir sind in den ersten Jahren immer unter dem Druck der Partei gewesen". Um die Aufmerksamkeit abzulenken, sagt er, sollte einer in der Familie in eine nationalsozialistische Organisation gehen, "und der einzige, der dafür in Frage kam, war ich".

Der Herr der hunderttausend Bücher

Karl Hartung trat der Marine-SA bei, wo er eine Funkerausbildung mitmachte. Mit Kriegsbeginn wurde er nach Wilhelmshaven beordert: Einsatz bei der Kriegsmarine, unter anderem bei einer Vorpostenflotille. Auf Heringsfängern hielt er nach feindlichen Schiffen Ausschau, "aber man hat nie eines gesehen".

Das Ende des Krieges erlebte er auf dem Lido in Venedig. Er setzte sich von der Truppe ab, fiel in die Hände von Partisanen. "Ich hab' Glück gehabt. Einem Kameraden haben sie den Hals abgeschnitten."

1946 war er wieder in München. Auch Georg Karl hatte den Krieg überstanden, es konnte wieder losgehen in zwei Zimmern, ausgestattet mit nicht viel mehr als einer defekten Schreibmaschine, die in einem ausgebrannten Tresor lag.

1950 zog man ins Müllerhaus am Karolinenplatz, und "nach zehnjähriger Anlaufzeit", wie es Hartung spitz formuliert, erwarb er die Teilhaberschaft an der Firma. 1971 scheidet er aus und gründet sein eigenes Unternehmen, das seit 1989 unter Hartung&Hartung firmiert.

Erotisch aufgeladene Briefe von König Ludwig II.

Sohn Felix ist mit im Boot, auch Kathrin, die Tochter aus zweiter Ehe. Einmal, fünf Jahre ist das her, haben wir gesehen, wie Karl Hartung 26 erotisch aufgeladene Briefe versteigerte, die König Ludwig II. an seinen Marstallfourier Karl Hesselschwerdt geschrieben hatte.

Jeden kleinsten Fingerzeig der Bietenden bemerkte er, jedes Zwinkern mit den Augen, jede Geste. Um ihn der Rummel, den die Pressefotografen veranstalteten, das Hin und Her der Männer am Telefon, die die Gebote weitergaben - nur er, Hartung, blieb ruhig. War souverän, geradezu aristokratisch kultiviert. Für 195000 Mark wechselten die Briefe des unglücklichen Königs den Besitzer.

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