Anonymität:Das einsame Sterben in München

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Brot, Messer, Brille und sonst? Das Leben im Alter ist oft ein einsames. (Foto: Catherina Hess)

Wie lange dauert es, bis Mieter in einem Haus merken, dass ihr Nachbar tot in der Wohnung liegt? Neulich waren es zwei Jahre. Niemand hatte die 91-Jährige aus Mittersendling vermisst. Aber es gibt Menschen, die um sie trauern.

Von Wolfgang Görl, München

Es sind Fälle wie dieser, die im ersten Moment einen Schauder auslösen, dem in der Regel ein Stoßseufzer folgt über die allgemeine Gleichgültigkeit in der Großstadt. Knapp vier Wochen ist es her, dass die Polizei in einer Wohnung in Mittersendling das Skelett einer 91-jährigen Frau fand, deren Tod etwa zwei Jahre zurücklag. Niemand hatte die alte Dame vermisst, niemand hatte sich darüber gewundert, dass sie weder zu sehen noch zu hören war. Erst als ihr Briefkasten überquoll, schöpfte ein Nachbar Verdacht und alarmierte die Polizei.

Ein Mensch stirbt, liegt lange Zeit tot in der Wohnung, und keiner merkt's - das ist traurig und erschütternd. Wer sich aber darüber empört, sollte umgehend sich selbst befragen: Würde es einem auffallen, wenn aus der Nachbarwohnung kein Lebenszeichen mehr käme? Und wenn ja: Würde man etwas tun? Würde man die Polizei rufen? Der Nachbar könnte ja auch verreist sein oder im Krankenhaus liegen. Was weiß man denn schon voneinander in einem großen Mietshaus, wo beinahe jeder seine Wohnung als Schutzraum vor der Außenwelt begreift und man sich allenfalls im Treppenhaus begegnet, in dem es, wenn es hoch kommt, gerade mal zu einem flüchtig dahingestammelten Gruß reicht?

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Sicherlich gibt es auch gut funktionierende Hausgemeinschaften, aber selbst da ist nicht ausgeschlossen, dass Einzelne sich zurückziehen, sich abschotten und in die Einsamkeit ihrer Wohnhöhle flüchten - warum auch immer. Es fällt dann kaum auf, wenn so eine Person irgendwann nicht mehr auftaucht.

Dass ein Mensch zwei Jahre tot in der Wohnung liegt, "ist mit Sicherheit eine große Ausnahme". Dies sagt Rainer Samietz, der Leiter des Kommissariats K 12, das für Todesermittlungen zuständig ist. Extreme Fälle wie dieser seien sehr selten, etwas häufiger hingegen komme vor, dass es mehrere Wochen oder einige Monate dauert, bis ein Verstorbener entdeckt wird.

Eine genaue Statistik führt das Kommissariat nicht, Samietz aber schätzt, dass es in München pro Jahr etwa zehn Fälle sind. Meist ist es ein Nachbar oder der Hausmeister, der die Polizei verständigt, etwa weil er Verwesungsgeruch bemerkt hat. Aufgabe von Samietz und seinen Kollegen ist es dann, die Todesursache zu ermitteln. "Woran ist der Mensch verstorben. Wir müssen ein Fremdverschulden, also einen Mord oder etwas Ähnliches definitiv ausschließen", sagt der Kommissariatsleiter.

Die Polizei wird hinzugezogen

Sollte den Ermittlern irgendetwas sonderbar vorkommen, ist es Sache der Staatsanwaltschaft, eine Obduktion anzuordnen. Besteht der Verdacht, es sei ein Verbrechen geschehen, kommt die Mordkommission ins Spiel. Sie muss die Sache untersuchen und gegebenenfalls den Täter herausfinden.

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Im Fall der 91-jährigen Frau aus Mittersendling gab es keine Anzeichen für ein Fremdeinwirken, die alte Dame ist den polizeilichen Erkenntnissen zufolge eines natürlichen Todes gestorben. Offensichtlich ist, dass es keine Freunde oder Verwandten gab, die sich um die Frau gekümmert hätten. Aber so etwas wie Anteilnahme gab es post mortem dann doch. Mehr als zwei Jahre nach dem Tod der Frau waren da mit einem Mal Menschen, die der einsam Verstorbenen gedachten und die für sie beteten. Am 1. April kamen Mitglieder der katholischen Laiengemeinschaft Sant' Egidio zusammen, um in der Schwabinger Kirche St. Sylvester derjenigen zu gedenken, die einsam oder obdachlos gestorben sind.

Sant' Egidio gedenkt der einsam Gestorbenen

Zum ersten Mal war diese Gedenkfeier im Jahr 2014 zelebriert worden, es war eine Reaktion auf den Tod zweier Männer aus Rumänien. Die beiden Freunde, Doru und Vasile, waren auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland gekommen. Das bessere Leben, das sie erhofft hatten, fanden sie nicht. Wenn überhaupt, hatten sie Gelegenheitsjobs, zuletzt lebten sie auf der Straße, beide schwer krank.

Am 15. Februar 2014 starb der 33-jährige Vasile, vier Tag später Doru, der 51 Jahre alt wurde. Seitdem gedenkt die Sant'-Egidio-Gemeinschaft jeweils am 1. April der einsam Verstorbenen. In diesem Jahr war auch die Tote aus Mittersendling unter denen, deren Namen aufgerufen wurden, um für sie zu beten. Zudem gestaltet die Gemeinschaft am 28. April, 9.15 Uhr, am Krematorium auf dem Ostfriedhof eine Trauerfeier für die Frau.

"Der Tod der Dame, die zwei Jahr in ihrer Wohnung lag, war auch für uns wieder so ein Zeichen", sagt Ursula Kalb von der Gemeinschaft Sant' Egidio. Etwa 500 Menschen engagieren sich in München in der 1968 gegründeten internationalen Laienorganisation, die sich neben der Weitergabe des Evangeliums dem Dienst an den Armen verschrieben hat. "Wir besuchen alte Menschen in Altenheimen, Obdachlose und Bettler auf der Straße und helfen bei den Dingen, die nötig sind, zum Beispiel eine Brille reparieren zu lassen oder einen Brief aufzusetzen", erzählt Ursula Kalb.

Jeden Samstag lädt die Gemeinschaft bedürftige Menschen zu einem dreigängigen Menü in der Pfarrei St. Sylvester ein, wo auch das Büro (Biedersteiner Straße 1) von Sant' Egidio ist. Aber dabei geht es, fügt Kalb hinzu, nicht nur ums Essen. "Das Entscheidende ist das Gespräch, die Freundschaft, die Beziehung und die konkrete Hilfe, wenn es brenzlig wird."

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Vor allem alte Menschen sind es, die zur samstäglichen Mensa kommen. Unter ihnen sind viele, die vor Jahren ihr Heimatland verlassen haben, weil dort, wie etwa in Bosnien, Krieg herrschte, oder weil sie hofften, in Deutschland Arbeit zu finden. Mittlerweile sind die sogenannten Gastarbeiter, die Flüchtlinge aus dem Balkankriegen oder die Spätaussiedler aus der Sowjetunion in die Jahre gekommen.

Nicht jeder hat es zu Wohlstand gebracht. "Diese Menschen sind oft so arm, dass sie in München kaum über die Runden kommen", sagt Kalb. "Und was auffällt, ist, dass diese Leute häufig komplett vereinsamt sind." Warum das so ist, hat vielfältige Ursachen: psychische Krankheiten etwa, Scheidung, Gefängnis, Arbeitslosigkeit und andere Lebenskatastrophen.

In München, der reichen, funkelnden Stadt, wo Erfolgsmenschen gern mit ihren Errungenschaften protzen, sind Bedürftige besonders gefährdet, sich als Versager zu fühlen. Also verstecken sie sich, verzichten auf soziale Kontakte, vereinsamen. Ursula Kalb hat den Eindruck, dass die Armut, insbesondere die Altersarmut, in München zunimmt. "Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander."

Es gibt immer mehr Bestattungen "von Amts wegen"

Ebenso wie die Mitarbeiter anderer sozialer Dienste, Vereine und Institutionen versuchen auch die ehrenamtlichen Helfer von Sant' Egidio, die Not zu lindern. An Arbeit mangelt es dabei nicht: Da ist die Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien, die jahrzehntelange als Putzhilfe gearbeitet und die, so gut es halt ging, einiges fürs Alter beiseite gelegt hat. Dann heiratete sie den falschen Mann, der ihr Guthaben in kurzer Zeit verjubelte. Jetzt ist sie wieder allein, von der Rente bleiben der 71-Jährigen nach Abzug der Miete gerade mal 80 Euro pro Monat zum Leben. Oder der 70-jährige Mann, dem man die Wohnung gekündigt hat: Nun ist er obdachlos, meistens schläft er in der S-Bahn. "Zum Glück wird man da nicht gleich vertrieben", sagt er.

In der Regel fällt es kaum jemandem auf, wenn diese Menschen nicht mehr da sind. Stirbt einer von ihnen, ist in vielen Fällen kein Angehöriger aufzufinden, der sich um die Beerdigung kümmert. Die Kommune muss einspringen, es kommt, wie es im Behördendeutsch heißt, zu einer "Bestattung von Amts wegen". Davon gab es im vergangenen Jahr 572. Allerdings waren es nicht nur arme Menschen, die auf diese Weise beerdigt wurden. Nach Auskunft des städtischen Gesundheitsreferats waren darunter auch gut situierte Personen, bei denen es schlichtweg nicht möglich war, rechtzeitig einen Angehörigen aufzuspüren.

Oft können keine Angehörigen gefunden werden

Tendenziell, sagt Pressesprecherin Bernadette-Julia Felsch, "nimmt die Zahl der Bestattungen von Amts wegen zu". Dafür gebe es diverse Gründe, unter anderem werde es zunehmend schwieriger, Angehörige innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Frist ausfindig zu machen. Die Menschen sind mobiler geworden, viele leben in anderen Teil der Welt, oft mit unbekannter Adresse. In etwa einem Drittel der Fälle bleibt die Kommune auf den Bestattungskosten sitzen, weil weder etwas aus dem Nachlass noch von den Verwandten zu holen ist.

Es ist ein einfaches Begräbnis, das von Amts wegen stattfindet. "Einfach, aber würdevoll", sagt Bernadette-Julia Felsch. Dabei werde auch berücksichtigt, welcher Religionsgemeinschaft der Verstorbene zugehörig war. So ist zumindest die Bestattung geregelt. Aber eigentlich geht es ja um das Leben. Darum, dass es möglichst glücklich verläuft. Dass keine Not herrscht. Dass niemand sich verstecken muss. Und dass keiner einsam stirbt.

© SZ vom 13.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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