Ankunftszentrum in München:Zeltstadt mit Herz

Erstmals muss die Stadt München Zelte aufstellen, um die neu ankommenden Flüchtlinge noch unterbringen zu können. Plötzlich ist das böse Wort vom "Katastrophenfall" in der Welt.

Reportage von Bernd Kastner

Es dauert, bis man im Gegenlicht des Scheinwerfers etwas erkennt, bis man die vielen Kinder hinterm Zaun sieht. Sie schmiegen sich an ihre Eltern, ein paar weinen, ein Vater ruft "bus, bus, bus", dreimal, auf Englisch. Es kommt aber kein Bus, sie müssen heute nicht mehr in eine andere Stadt. Es ist kurz vor halb zwei in der Nacht, als die Security das Tor öffnet und etwa hundert Menschen in ihr Quartier begleitet.

Leise ziehen die Flüchtlinge vom Ankunftszentrum aus durch die Nacht, sie bekommen die letzten freien Plätze im Bettenhaus, das steht 200 Meter weiter. Die Eltern tragen ihre Taschen und ihre Kinder, und aus der Ferne hört man dieses Klopfen. Tock-tock-tock. Immer wieder dieses metallische Geräusch. Tock-tock. Die Menschen laufen zügig, achten nicht darauf, was rechter Hand passiert. Auf der großen Kiesfläche im Euro-Industriepark bauen Hunderte Helfer gerade eine Zeltstadt auf. Seit der Nacht auf Freitag bringt auch München neu angekommene Flüchtlinge auf diese Weise unter.

755 Menschen sind angekommen, so viele wie noch nie

Donnerstag, sechs Uhr abends. Das Ankunftszentrum für Flüchtlinge ist seit dem Mittag wegen Überlastung geschlossen. 755 Menschen waren in den 24 Stunden zuvor angekommen, so viele wie noch nie. Das Zentrum, erst vor gut einer Woche eröffnet, ist auf durchschnittlich 350 ausgelegt, von hier aus werden sie in eine Erstaufnahme geschickt, irgendwo in Deutschland. Die Security reicht weiße Plastiktüten mit Essen und Getränken über den Zaun. Viele sitzen auf dem schmalen Grünstreifen zwischen Radweg und Straße. Lastwagen rauschen vorbei. Ein falscher Schritt im falschen Moment, man will nicht daran denken.

Seit Stunden haben sie in den Büros der Regierung an der Maximilianstraße überlegt, was tun. Lassen sich Zelte doch noch vermeiden? Nein, lautet irgendwann die Antwort. Da ist es aber schon spät am Tag, die Zeit wird knapp, will man die Flüchtlinge nicht draußen schlafen lassen. Menschen kommen ans Tor, wollen rein. "Full", sagt die Security, "closed." Es sind die Worte des Tages. "Please wait."

Zur selben Zeit im Kreisverwaltungsreferat. Wilfried Blume-Beyerle, der Chef, kommt von einem Termin zurück und erfährt erst jetzt, dass die Regierung die Stadt bittet, neben dem Zentrum Zelte aufstellen zu dürfen. Um halb sieben ruft er den Oberbürgermeister an, Dieter Reiter muss den Zelten zustimmen, die Fläche neben dem Ankunftszentrum gehört der Stadt, und die Hilfe der städtischen Berufsfeuerwehr ist nötig. Reiter hat Zelte immer abgelehnt, aber jetzt? Was bleibt ihm anderes übrig.

Der KVR-Chef aber bleibt cool

Also gibt er den Startschuss für einen Einsatz, den es so in München noch nicht gegeben hat. Der KVR-Chef aber bleibt cool. Mit Freunden ist er an diesem Abend zum Stammtisch verabredet, im Franziskaner an der Oper. Wie immer geht er hin, er wisse ja, wird er später im Licht der Scheinwerfer sagen, dass er sich auf seine Leute verlassen kann. Außerdem: "Das ist ein ganz einfacher Auftrag. Aufbau eines Zeltlagers für 300 Personen."

Um neun Uhr wird am Hintereingang des Ankunftszentrums die Schlange der Einsatzwagen länger und länger, sie warten auf Einfahrt. Wenig später steht das erste Zelt, dann das zweite, dann das dritte. Die Feuerwehr hat welche mit aufblasbarem Gerüst dabei, und nagelneue Feldbetten, so leicht, dass die Helfer vier übereinander tragen.

Münchens OB ruft den Katastrophenfall aus

Im Rathaus trifft sich der OB an diesem Abend mit Journalisten, es ist die übliche Hintergrundrunde zur Sommerpause. Reiter sagt, dass er den Katastrophenfall ausgerufen habe, allein aus technischen Gründen, um die Feuerwehr in Marsch zu setzen. Die Nachricht verbreitet sich online sofort, Differenzierungen würden stören: Flüchtlinge. Katastrophe. München. Das bringt Klicks. Draußen, auf dem Kies, redet Maria Els, die Vizepräsidentin der Regierung, derweil mit den ersten Helfern. Katastrophenfall? Sie schüttelt den Kopf. Dieses Wort könnte zur Image-Katastrophe für ihr Haus werden.

Kurz vor zehn. Eine rote Feuerwehr-Limousine fährt vor, Blume-Beyerle steigt aus, der Stammtisch ist beendet. Sein Einsatzleiter Ewald Penzenstadler von der Berufsfeuerwehr sagt, dass man bei den Begriffen aufpassen müsse: Der Einsatz sei nur ein "koordinierungsbedürftiges Ereignis", das liege unterhalb der Schwelle des Katastrophenfalls. Aber die vermeintliche Katastrophe ist längst in der Welt. Der Einsatzleiter ist gelassen, er nennt das Geschehen "harmlose Ernstlage", es sind gottlob keine Menschenleben in Gefahr.

Man erkennt Decken auf dem Boden, Menschen auf Bierbänken schlafend

Das Ankunftszentrum selbst ist nicht zugänglich für Reporter, die Regierung will die Flüchtlinge schützen. 450 von ihnen halten sich gerade in dem Containerbau auf, warten auf die erste Untersuchung, aufs Foto, auf die Registrierung, hoffen auf ein Bett. Man erkennt Decken auf dem Boden, Menschen auf Bierbänken schlafend, ein Vater hebt sein Baby hoch.

Die freie Fläche ist jetzt nicht mehr frei, die Motoren der Einsatzfahrzeuge dröhnen, die Krise riecht nach Diesel. Neben Feuerwehr und Technischem Hilfswerk (THW) sind Arbeiter-Samariter-Bund, Bayerisches Rotes Kreuz und Malteser vor Ort, um die 170 Helfer, mehr als 50 Fahrzeuge. Polizei und THW haben ihre neuesten Scheinwerfer aufgestellt, "Power Moon" heißen sie, Kraftmond, weil sie keinen Schatten werfen. Der echte Vollmond kann da nicht mithalten. Stefan Wawrzinek ist Zugführer beim THW, er war beim Abendessen, als kurz vor acht die Nachricht kam: Seit 20 Jahren ist der 30-Jährige dabei, ein Routineeinsatz.

Planen werden aufgespannt, Betten aufgeklappt

In der Luft liegt ein Klopfen, Metall auf Metall, tock-tock-tock. Die Zelte werden im Kies verankert. Was für den Camper der Hering ist, ist fürs THW der Erdnagel. Tock-tock-tock. "Auf mein Kommando", ruft ein THWler. Planen werden aufgespannt, Betten aufgeklappt. Das BRK hat mal welche von der Bundeswehr aufgekauft, sie stammen aus dem kalten Krieg, jetzt schlafen Kriegsflüchtlinge darauf.

Gegen Mitternacht gibt's Brotzeit. Die Rot-Kreuzler sind am Abend noch beim Metzger vorbeigefahren, haben große Boxen mit Wiener und Lyoner mitgebracht. Dazu Semmeln. Wie Camping hier, bloß in ganz groß. Es riecht auch nach Camping, aber Urlaub fühlt sich anders an.

Vor dem Eingang zum Zentrum warten kurz vor eins noch immer Dutzende unterm Vordach. Sie liegen auf Bierbänken, Wasserflaschen dienen als Kopfkissen. Das Zentrum hat offiziell wieder geöffnet. Ein junger Flüchtling fragt, ganz leise: Sim-Karte. Kaufen. Wo? Handys sind das wichtigste Utensil auf der Flucht.

Um zwei Uhr stehen die Zelte

Zwei Uhr. Die Zelte stehen, mal sind acht Betten drin, mal 20. Der Klocontainer ist angeschlossen, gleich daneben, im Freien, stehen Waschbecken, ein paar Meter weiter rauschen Autos auf der Maria-Probst-Straße vorbei. Jetzt sind nur noch Strom und Licht anzuschließen, in einer Stunde werden dann die Flüchtlinge einziehen, 249 sind es in dieser Nacht.

Blick durchs Fenster des Bettenhauses in die Wartezone. Vielen Familien ist noch kein Bett zugewiesen, Kinder liegen auf dem Boden. Dann kommt aus dem Dunkel der Lotte-Branz-Straße die nächste Gruppe, wieder Familien, wieder um die 100 Menschen. Eine Mutter schiebt einen Zwillingskinderwagen. Langsam gehen sie durch die kleine Eingangstür. So viele Menschen, so ruhig.

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