Andreas Gursky-Ausstellung:Sisyphos am Bergesrand

Der Mensch wird ausgelöscht: Andreas Gursky im Münchner Haus der Kunst.

Gottfried Knapp

Andreas Gursky im Haus der Kunst - das ist auf mehrfache Weise ein erhellendes Ereignis. Für die Präsentation der fotografischen Arbeiten Gurskys wurden im Erdgeschoss alle Leuchtkörper und Schienen abgenommen. Nur noch durch die riesigen rechteckigen Glas-Decken fällt Licht in die Hallen.

Die von den Wänden zu den Oberlichtern aufschließenden mächtigen Halbtonnen der Hohlkehlen, die bislang von den Scheinwerfern verstellt waren, legen sich nun als stille Schattenzonen wieder zwischen die hellen Decken und Wände und nehmen so direkt Einfluss auf die plastische Wirkung der Räume.

Die Besucher erleben die Raumfolge also wieder so, wie sie sich der Erbauer das Hauses, Paul Ludwig Troost, 1933 vorgestellt hat: als eine Folge klassisch konstruierter Galerieräume, bei der allenfalls die Maße ein wenig außer Kontrolle geraten sind. Nur Monumentalskulpturen von mehreren Metern Höhe bringen die Widerstandskraft auf, die nötig ist, um sich im weiten, hohen Mittelsaal gegen die Leere durchzusetzen.

Das bekommt auch Andreas Gursky zu spüren. Er hat zwar alle seine Arbeiten für die Münchner Ausstellung eigens noch einmal spektakulär vergrößern lassen, doch selbst die bis zu fünf Meter breiten und über drei Meter hohen Formate vermögen, da sie in ihrem Detailreichtum fast ausschließlich von der Nahsicht leben, den offenen Riesenraum nicht mit bildnerischem Leben zu füllen.

Dafür lässt Gursky die Folge der kleineren Seitenräume ganz neu erleben. Wer, imprägniert mit seinen additiven Bildmustern, in der Enfilade der Kabinette durch die gleichmäßige Flucht der steingerahmten Portale hindurchblickt, glaubt plötzlich selber in ein dreidimensionales Gursky-Bild geraten zu sein.

Automobile Generalstilllegung

In der großzügigen Raumfolge des Hauses der Kunst - fast jedes des 48 ausgestellten Bilder hat eine Wand für sich - lässt sich die Genese des Gursky'schen Bildsystems in den Meisterstücken der Analogfotografie und die konsequente Weiterentwicklung im manipulativen System der digitalen Lichtbildkunst gut nachvollziehen.

Das früheste der ausgestellten Bilder, die noch analog erfasste Wettervision "Seilbahn Dolomiten" aus dem Jahr 1987, visualisiert einen Moment des puren Fotografen-Glücks mit einer Bildkraft, die überwältigt, ja C. D. Friedrich als Paten herbeizurufen scheint. Über einer scharf erfassten Hochgebirgslandschaft wachsen Bergstöcke in eine von hinten herandrängende, alles verschlingende hohe Wolkenwand hinein.

Exakt im Mittelpunkt des Bildrechtecks, also hoch im kompakten Wolkenmeer, leuchtet schockierend klar die rote Kabine einer Seilbahn auf, ein winziger, ferner Farbpunkt in der puren Raumlosigkeit, der, da von den Tragseilen nichts zu erkennen ist, dem Betrachter das ungemütliche Gefühl gibt, dass dort oben am Himmel ein menschliches Gefährt von Naturgewalten in die Unsichtbarkeit entführt wird.

Bildmächtiger und poetischer lässt sich in einem Schnappschuss nicht vorwegnehmen, was Gursky später in den kunstvoll verdichtenden Massierungen seiner digitalen Studioarbeiten sichtbar macht: das Verlöschen humaner Spuren, die Anonymisierung menschlichen Treibens, das Verschwinden individueller Ausdrucksformen in den multiplizierten Nichtigkeitsgesten der Masse.

Sisyphos am Bergesrand

Farbiger Alptraum

Auch die anderen Bilder aus der Analogzeit beschwören Momente und Orte des irritierend Fremden. Im Bild "Ruhrtal" rauscht der von unten fotografierte, monströs wie ein Balken den Himmel verriegelnde Autobahnviadukt hoch über der winzigen Mannsfigur beidseitig ins Ungewisse davon, nimmt also den psychologischen Effekt der Endlosigkeit vorweg, den Gursky später mit horizontalen Additionen gleicher Elemente und harten seitlichen Schnitten suggeriert.

"Salerno" schließlich, eines der letzten Bilder, das Gursky ohne digitale Nachbearbeitung freigegeben hat (1990), bietet als Fundstück aus dem Alltag schon einen eindrucksvollen Ausblick auf jene Summierungen gefundener Real-Strukturen, wie sie Gursky wenig später digital zusammensetzen wird.

Vor der malerischen Kulisse der Hafenstadt sind Tausende weißer, roter und schwarzer Automobile auf engstem Raum zu einer Großstruktur zusammengeschoben, die sich aus der Höhe wie ein hingebreiteter, originell gesprenkelter Teppich mit Noppenmuster ausnimmt.

Nur durch das Abheben vom realen Boden des Hafens bekommt das aus der Normalperspektive unüberschaubare Gedränge seine Irrsinnsdimensionen, nur durch das Hochkatapultieren der Kamera in eine Panoramaposition wird die Idiotie der automobilen Generalstilllegung sichtbar, nur dem ordnenden Schöpferblick vom erhabenen Ort aus tun sich die rasterartigen Strukturen, die perspektivischen Tiefen der Szene auf.

Im Haus der Kunst hängt dieses Analogfoto aus Italien wie ein Pendant neben der vier Jahre später in vielen Arbeitsschritten aus einem ähnlichen Motiv gewonnenen Vision "Rimini". Wohl mit dem Hubschrauber hat sich Gursky dort in die Höhe geschraubt, um den breiten, von Sonnenschirmen farbig gepunkteten Sandstrand, der sich bis ins Unendliche zu dehnen scheint, als Ganzes erfassen zu können.

Pures Entsetzen

Aus den hyperscharfen Fotografien, die er teils senkrecht von oben, teils schräg nach unten auf die etwas ferneren Strukturen, teils in Richtung Horizont auf die fernsten Zonen gemacht hat, stellte er in einem extremen Hochformat ein logisches Kontinuum von schlicht überwältigender Tiefenerstreckung und Detailschärfe zusammen.

So entstand eine visuelle Potenzierung des Themas Badestrand, die als Fotokunstwerk und Spiel mit perspektivischen Tricks zu begeistern vermag, als Manifestation menschlicher Bedürfnisse und Dokument anonymen Massentreibens aber pures Entsetzen auslöst. Noch die kilometerweit entfernten großstädtischen Strukturen am obersten Bildrand zeichnen sich ähnlich surreal scharf ab wie die Schatten der Sonnenschirme ganz vorne auf dem menschenleeren Strand.

Gursky befreit sich also von den Zwängen der Zentralperspektive, aber auch von den Mängeln der atmosphärischen Perspektive, die in der Ferne alles undeutlich werden lässt. Auf seiner subtil komponierten Luftansicht des bis zum Horizont sich erstreckenden Viehmarkts von Greeley kann man die Kühe selbst in den entferntesten Koppeln noch zählen.

Man könnte Gurskys Hochformate mit ihrer Multiperspektive und ihrem unerhörten Tiefensog als Reißschwenks mit der Kamera von der senkrechten bis zur waagrechten Position empfinden. Jedenfalls erschließen die nahtlos zusammengeschraubten Nah- und Ferndetails Ausdrucksdimensionen, von denen die Fotografie vorher nur träumen konnte.

Sisyphos am Bergesrand

Farbiger Alptraum

In "Engadin" summieren sich Luftaufnahmen steil von oben auf den sich in die Länge ziehenden Insektenschwarm der Skilangläufer mit einer klassischen Ansicht des zugeschneiten Hochtals zu einer fotografischen Feier des Winters, die sich unauslöschlich ins Gedächtnis prägt. Oder die quasi vor den Füßen des Betrachters beginnende, in allen schrecklichen Details bis zum Horizont abtastbare Plastikmüllhalde, in der eine Ansammlung menschlicher Hütten fast untergeht: Der farbige Alptraum wird hier bis an den Rand des Sichtbaren verlängert.

Oder die beiden Berge der Tour de France, die Gursky mit allen Serpentinen, allen Fahrern, allen Begleitwagen und Zuschauern aus großer Ferne fotografiert und dann zu einer Doppeleinheit übereinandergestülpt, zum Sinnbild sisyphoshaft nutzloser Individualanstrengungen verdichtet hat.

Wie weit er sich mit dem Prinzip des collagenhaften Kombinierens inzwischen von den Normalitäten der Fotografie entfernt hat, zeigt Gursky mit seinen drei collagierten Versionen des "Boxenstopps": Der geballten Dynamik der uniformierten, behelmten Mechaniker, die in der unteren Bildhälfte bei dramatischem Licht wie Piranhas über die Rennwagen herfallen, stellt er im oberen Bildstreifen als denkbar größten Kontrast eine Masse fotografierender Besucher hinter einer dämpfenden Glasscheibe gegenüber. Wenn er mit dieser Gegenüberstellung den Abstand andeuten wollte, der ihn als Fotokünstler vom Rest der fotografierenden Welt trennt, hat er ein starkes Bild gefunden.

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