Forschung:"Die Rechten haben jetzt schon unser aller Leben verändert"

Andrea Petö Ungarn Wissenschaftlerin

Die Historikerin Andrea Petö ist mit höchsten Würden geehrt. Immer wieder mischt sie sich auch in öffentliche Debatten ein.

(Foto: Robert Haas)

Andrea Petö ist Gastwissenschaftlerin am Institut für Zeitgeschichte. Zu Hause wird die Ungarin übel beschimpft - weil sie Frauenforschung betreibt.

Von Martina Scherf

Nein, sagt Andrea Petö, Angst habe sie nicht. "Ich lasse mir mein Leben nicht vermiesen. Ich will glücklich sein". Ausgehen, Freunde treffen, Opern hören. Andrea Petö, 54, ist eine der profiliertesten Historikerinnen Ungarns und forscht derzeit mit einem Stipendium am Institut für Zeitgeschichte in München. Sie sei glücklich, hier zu sein, sagt sie, "es verschafft mir eine Atempause".

Zu Hause hat sie mit ihrer Forschung mittlerweile einen schweren Stand. Da hilft es auch nicht, dass sie im vergangenen Jahr eine der höchsten europäischen Auszeichnungen erhalten hat, den Madame-de-Staël-Preis der Wissenschaftsakademien. Holocaust und Genderfragen, das sind ihre Themen, und beides ist der rechtspopulistischen Regierung von Viktor Orban ein Dorn im Auge. Anhänger seiner Fidesz-Partei setzen Petö und ihre Kollegen unter Druck, in den staatlichen Medien und im Netz. Anonyme Hassmails sind an der Tagesordnung, auch persönliche Bedrohungen. Die Wissenschaftlerin lehrt an der von George Soros gegründeten Central European University, und die wurde so in die Enge getrieben, dass sie demnächst von Budapest nach Wien umziehen wird.

"Die Regierung versucht immer mehr Kontrolle über die Wissenschaft zu bekommen", sagt Petö. "Sie diskreditieren einzelne Forscher öffentlich, sie kontrollieren die Budgets. Was ihnen nicht ins Konzept passt, wird nicht mehr gefördert oder ganz geschlossen." Die Genderforschung wurde an staatlichen Universitäten in Ungarn ganz abgeschafft, genauso wie in Russland. Auch in Polen, und sogar in Belgien und Schweden ist sie unter Druck geraten. Und natürlich hat auch die AfD kritische Wissenschaftler längst im Visier. Das Klima sei überall rauer geworden, sagt Petö.

Roter Lippenstift, elegante Bluse, klare, entschiedene Sprache - Andrea Petö strahlt Selbstgewissheit aus. Ihr Blick ist forsch, aber freundlich, und wenn sie spricht und gestikuliert, bewegt sich ihr Silberschmuck am Handgelenk.

Genderforschung, das ist in den Augen vieler Konservativer "Gleichmacherei", das Leugnen biologischer Unterschiede zwischen Mann und Frau. Dabei gehe es um etwas ganz anderes, sagt Andrea Petö, "das wollen sie nicht verstehen". Es geht um Menschenrechte, um historische, politische, psychologische Fragen der Ungleichheit. Warum bekommen Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld und damit auch weniger Rente? Warum werden Frauen viel häufiger Opfer von sexueller Gewalt? Warum werden Schwule und Lesben in vielen Ländern der Welt immer noch mit dem Tod bedroht? Was hat Armut und Gesundheit mit der Geschlechterzugehörigkeit zu tun. Oder umgekehrt: Was hat sich verändert, seit Frauen mehr Rechte in der Gesellschaft haben?

"Wir müssen gegenhalten"

Ihre Gegner, sagt Petö, kommen aus verschiedenen Richtungen. "Da treffen sich Katholiken und Protestanten, orthodoxe Juden und Muslime, Konservative, Rechte, ja sogar Fußball-Hooligans." Eben all jene, die Angst vor einer allzu liberalen Gesellschaft haben und Schutz im Kollektiv suchen. Sie hängen einer anti-aufklärerischen Idee von Nation und einem traditionellen Familienbild an.

"Dabei stört es sie nicht einmal, wenn Menschenrechte verletzt werden, etwa durch Ausbeutung von Frauen als Sexsklavinnen oder Billiglöhnerinnen. Wo bleibt da die christliche Nächstenliebe?", sagt Andrea Petö.

Sie selbst hat ein Buch über die sexuelle Gewalt gegen Frauen im Zweiten Weltkrieg geschrieben, es wird derzeit gerade in mehrere Sprachen übersetzt. "Soldaten haben den weiblichen Körper schon immer als Verfügungsmasse angesehen, in jedem Krieg", sagt sie. Sie hat vor allem die Verbrechen von Deutschen, Russen und Ungarn analysiert. Am Münchner Zentrum für Holocaustforschung untersucht sie die Rolle von Frauen als Täterinnen im Zweiten Weltkrieg. Mit solchen Themen bricht sie in Ungarn ein Tabu: Die Rechtspopulisten wollen die Hoheit über die Geschichtsdeutung - ungarische Kollaborateure oder Kriegsverbrecher passen da nicht ins Bild.

Rechte Bewegungen gehen gezielt gegen fortschrittliche Politiker, Journalisten, Wissenschaftler vor, denen sie "Gender-Ideologie" oder "Kulturmarxismus" vorwerfen, sagt Petö. Sie benutzen "politische Korrektheit" als Kampfbegriff. Auch in deutschen Zeitungen sind schon Artikel erschienen, die in diese Richtung gingen. Die Hardliner sind gegen Sexualaufklärung an Schulen und Frauenförderung. Sie schüren Angst vor internationalen Institutionen, den Vereinten Nationen, der Europäischen Union, Migranten oder eben einflussreichen Freigeistern wie George Soros, der den Holocaust überlebt hat. "Dann ist schnell auch wieder die Legende von der jüdischen Weltverschwörung da. Dabei stilisieren sich die Populisten als Opfer, deren Meinung unterdrückt werde."

Es sei wie beim Polypor, sagt Petö. Der Baumpilz ernährt sich von seinem Wirt, raubt ihm Energie und erzeugt in seinem Stamm Braunfäule. Der Baum wird schwach und schwächer, hält Stürmen nicht mehr stand, am Ende stirbt er. Der Baum, das ist die Demokratie. Der Pilz, das sind ihre Feinde. "Wir müssen gegenhalten", sagt Andrea Petö. "Der Polypor möchte, dass du dich einsam fühlst. Daher musst du Freunde haben und Mitstreiter. Da dürfen Karriere oder Parteizugehörigkeit keine Rolle spielen, wir müssen die Freiheit verteidigen. Wohin Parteienstreit führen kann, sieht man derzeit in Großbritannien."

Die liberalen Eliten machen es sich zu einfach

Ein Weiter-so sei gefährlich. "Es genügt nicht zu sagen: Wir stehen auf der richtigen Seite." Mit dem "Orban-, Putin- oder Trump-Bashing" machten es sich die liberalen Eliten zu einfach. "Diese Männer sind ja nicht an die Macht gelangt, weil sie Hass auf Frauen und Homosexuelle verbreiten." Nein, man müsse die Kritik der neuen Rechten ernst nehmen. "Letztlich reagieren sie auf die nicht eingelösten Versprechen von Gleichheit und Demokratie. Und deshalb ist es höchste Zeit, Themen wie soziale Ungleichheit, den Rückzug des Staates aus der Daseinsvorsorge oder die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen anzupacken."

Die Demokratien seien müde geworden, sagt Petö, die selbst umso kämpferischer wirkt. Sie will ihre Zeit in München auch dazu nutzen, Kollegen ein wenig wach zu rütteln. "Wir müssen den Baum stärken. Sonst werden uns eines Tages die Wurzeln gekappt."

Viele Intellektuelle würden den Pilz unterschätzen, sagt sie. Sie kümmerten sich um Veröffentlichungen, die ihrer Karriere nutzten, aber wenig um allgemein verständliche Beiträge in öffentlichen Medien. Sie müssten sich viel mehr in öffentliche Debatten einmischen, fordert sie.

Petö selbst tritt auf Podien auf, und sie ist in sozialen Netzwerken aktiv. Sie twittert, postet und argumentiert in einem Podcast ihrer Uni. Sie diskutiert auch mit ihren Gegnern. "Das ist unbequem, das kostet Kraft, aber es ist unsere Aufgabe." Sie scheint sehr viel Kraft zu haben. Auch einen Hashtag "aliveablecountry" (ein lebenswertes Land) hat sie gegründet. "Darum geht es doch: leben und leben lassen."

Sie wollte immer Historikerin sein. 1988 war sie für ein Semester an der Uni in Freiburg. "Da stand ich in der Bibliothek vor einem Regal mit Büchern zur Geschichte der Frau. Das war eine Entdeckung, die mein Leben verändert hat." Die Wissenschaft mit dem Leben zu verbinden, das treibt sie seither an. "Ich bin ja immer auch Mutter, Tochter und Geliebte."

Forschung wie in der Zeitmaschine

Schon 2003 hat sie für ein Projekt der Genderforschung Frauen interviewt, deren Weltbild von konservativ bis nationalsozialistisch reichte. "Ich fühlte mich damals wie in einer Zeitmaschine, 70 Jahre zurückversetzt", sagt sie. Einige dieser Frauen hätten heute Führungspositionen in der Fidesz-Partei inne. "Mit den meisten von ihnen stehe ich aber noch immer in Kontakt. Darauf bin ich wirklich stolz." Privat würden diese Frauen oft anders reden als öffentlich. "Sie haben die Selbstzensur und die Doppelzüngigkeit verinnerlicht."

Andrea Petö ist eine Kämpferin. "Ich betrachte das Ganze wie ein globales Schachspiel. Und wir wollen doch gewinnen, oder?" Resignation kommt für sie nicht in Frage. "Die Rechten haben jetzt schon unser aller Leben verändert." Die täglichen Angriffe, der Hass, das lässt keinen unberührt. Auch ist es vom Wort zur Tat ein kleiner Schritt, sagt sie, "Beispiele haben wir ja schon gesehen". Doch dann komme sie auf wissenschaftliche Konferenzen, "und da sitzen dann lauter müde, frustrierte, deprimierte Kollegen herum. So geht es doch nicht!", sagt sie laut.

Ein halbes Jahr lang hat Andrea Petö nun Zeit, am Institut für Holocaustforschung in Ruhe an ihrem nächsten Buch zu schreiben. Frank Bajohr, der Institutsleiter, sagt, das Stipendium sei wichtig, "damit wir die Brücken zu den Kollegen im Ausland nicht abreißen lassen. Wir zeigen damit auch, dass wir Länder, in denen es kritische Wissenschaft derzeit schwer hat, nicht einfach abschreiben. Es gibt dort ja noch eine starke Zivilgesellschaft."

Genau, sagt Andrea Petö. Den Baum stärken, auch in stürmischen Zeiten. Auch unter persönlichen Opfern, was für sie selbst bedeutet, wohl bald mit ihrer Universität nach Wien umziehen zu müssen.

Nein, Angst habe sie nicht, betont sie noch einmal. An ihrem Hals baumelt eine osmanische Taschenuhr ohne Zeiger. Sie stammt aus Istanbul und ist ein Geschenk zu ihrem 50. Geburtstag. "Ich trage sie immer. Sie erinnert mich daran, dass alles vergänglich ist." Lacht, schwingt ihren purpurfarbenen Schal um den Hals und verlässt das Büro.

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