Süddeutsche Zeitung

Verkehrssünder vor Gericht:Mit Handy am Steuer? Nein, das war ein Rasierer!

Um Ausreden sind Verkehrssünder vor Gericht häufig nicht verlegen. Davon dürfen sich die Richter nicht blenden lassen. Ein Tag zwischen Wahrheit und Lügen im Verhandlungssaal.

Aus dem Gericht von Susi Wimmer

Der Paketfahrer Juri L. steht vor dem Gerichtssaal und hat Tränen in den Augen. Das Urteil ist gefällt, jetzt bangt er um seinen Job. Oder Robert A., ehemaliger Investmentbanker, in den nächsten 30 Minuten wird sich entscheiden, ob er ein paar Monate im Gefängnis verbringt. Im Amtsgerichtssaal A 30 laufen an diesem Montag die Fäden des Schicksals bei Thomas Jung zusammen. Seit neun Jahren verhandelt der Richter Straf- und Bußgeldangelegenheiten im Bereich Straßenverkehr. Die menschlichen Dramen sind sein Alltagsgeschäft, wobei zwischen Wahrheit und Inszenierung zuweilen erhebliche Lücken klaffen können.

So richtig in Fahrt kommen die "Klienten" von Richter Jung, wenn es um Ordnungswidrigkeiten und Punkte in Flensburg geht. "Wenn man so manchen Verteidiger hört, dann möchte man meinen, so ein Punkt sei schlimmer als Haft", sagt Jung ironisch. Einmal hatte er einen 75 Jahre alten Rentner, der gegen seinen ersten Punkt kämpfte, als ginge es um sein Leben. Nach dem aktuellen Bußgeldkatalog droht der Führerscheinentzug bei einem Punktekonto von acht. Und weil der Deutsche auf sein "liebstes Kind", sein Auto, nicht verzichten will, ist er um Ausreden nicht verlegen. "Einer, der am Steuer das Handy am Ohr hatte, hat behauptet, das sei kein Telefon, er habe sich während der Fahrt rasiert", erzählt Jung. Oder ein Raser versuchte dem Gericht weis zu machen, er sei zu schnell gefahren, weil sein Auto "selbständig beschleunigt" habe.

Auch Luis R. versucht sein Glück mit einer Ausrede. Dem 26-jährigen Schüler wurde schon vor Jahren der Führerschein entzogen, weil er mehrmals bekifft am Steuer saß - was ihn aber nicht davon abhielt, mit seinem Auto weiter Gas zu geben. 2016 wurde er ohne Schein erwischt und verurteilt. Jetzt, im Februar, wurde er auf der A 99 im Aubinger Tunnel mit 123 Stundenkilometern geblitzt, immer noch ohne Führerschein. Doch das Foto ist schummrig und bringt auch in der Vergrößerung kein eindeutiges Bild.

Der Schüler sagt: "Das bin ich nicht!" "Sie werden jetzt gesichtsmäßig seziert", kündigt Richter Jung an und übergibt an Stephanie Holley. So leicht kommt der junge Mann aus der Nummer nicht heraus. Die Sachverständige knipst ein Foto von Luis R. im Gerichtssaal von schräg rechts oben aus derselben Perspektive wie die Blitzeranlage. 20 Minuten später hat sie 53 Einzelmerkmale im Gesicht von R. ausgemacht, die mit dem Blitzerfoto übereinstimmen: Ohrachse, Nasenhöhe, Oberlidraum, Mittelgesichtsbreite, Augenspalte - die Identität sei "sehr wahrscheinlich, Tendenz höchstwahrscheinlich". Der Schüler mit den kahl geschorenen Haaren und der abgeschnittenen Jeans ist jetzt still. Er hört, wie Staatsanwältin Lisa Herzog 2000 Euro Geldstrafe fordert, Richter Jung auf 1800 Euro reduziert. Das Gutachten kostet extra, auch das muss der Schüler bezahlen.

Protokollführerin Claudia Menzel, seit 25 Jahren am Amtsgericht tätig, ruft den nächsten Fall auf: unerlaubtes Entfernen vom Unfallort. Der 47 Jahre alte Juri L. lebt seit Mai mit Frau und zwei Kindern in Deutschland, arbeitet als Paketfahrer - und verursachte gleich in den ersten Wochen im neuen Job einen Unfall. "Ich hab nix bemerkt, es hat geregnet, ich verteile Pakete", übersetzt die Dolmetscherin seine Aussage. Richter Jung liest dem Mann in der roten Arbeitskluft die Aussage einer Zeugin vor. Sie sah, wie ein Kleintransporter einen geparkten Wagen touchierte, "ein junger Bursche in Arbeitskleidung" ausstieg, sich die Haare raufte, schimpfte und weiterfuhr. Die Zeugin notierte das Kennzeichen. "Ich fühle mich schuldig, ich schäme mich als Fahrer und Mensch und entschuldige mich", sagt Juri L. schließlich. Er ist Alleinverdiener und seine Familie lebt von 1678 Euro netto. Trotzdem: Zwei Monate Fahrverbot und 800 Euro Geldstrafe. Als L. den Gerichtssaal verlässt, glitzern Tränen in seinen Augen. Auf die Frage, ob er nun seinen Job verliert, zuckt er hilflos mit den Schultern.

"Ich habe es nicht bemerkt", das sei die Standardausrede bei Unfallfluchten, sagt Richter Jung später. Er muss dann beurteilen, ob die Tat nachgewiesen werden kann. So wie bei Elmar T., Filmemacher, der in dunkelblauen Wildleder-Slippern den Gerichtssaal betritt. Der 59-Jährige mit gelb-blonder Wallemähne soll im Januar mit seinem Maserati vor einem Café in Grünwald einen Wagen angefahren haben und geflüchtet sein. "Er wollte bei starkem Schneefall und unebener Fahrbahn auf dem Parkplatz in eine Lücke rangieren, kam nicht rein und fuhr weiter", sagt sein Anwalt Stephan Tschaidse. Sein Mandant habe den Unfall "nicht bemerkt". Die Gegenseite machte anhand eines Gutachtens 2200 Euro Schaden geltend. "Bei privaten Sachverständigengutachten muss man vorsichtig sein", sagt Rechtsanwalt Tschaidse. Da gibt ihm Jung recht und sagt später, er habe mal einen Fall gehabt, bei dem ein Geschädigter laut Privatgutachten 3000 Euro als Wiedergutmachung verlangt habe, am Ende ergab das vom Gericht beauftragte Gutachten aber gerade mal eine Schadenssumme von 300 Euro.

Eine junge Frau tritt in den Zeugenstand. Sie hat den Unfall beobachtet und sagt, der Maserati haben den Mercedes "im Vorbeifahren" touchiert. Der Fahrer sei ausgestiegen, habe sein Auto begutachtet und ausprobiert, ob sich der Kofferraum noch öffnen lasse, dann sei er weitergefahren. "Ich bin ausgestiegen, um die Parklücke zu begutachten, und dann hab ich aus dem Kofferraum meinen Schirm geholt", sagt der Filmemacher. "Ich nehm' das jetzt mal zur Kenntnis, glauben muss ich das nicht", antwortet ihm Jung. Da noch ein anderer Zeuge geladen werden soll und das Gericht ein eigenes Gutachten in Auftrag geben will, wird die Verhandlung vertagt.

Dass es auf Münchens Straßen ruppiger wird mit den Jahren, das kann Richter Jung im Allgemeinen nicht feststellen. Vor Gericht sieht er hauptsächlich Autofahrer, die am Handy telefoniert haben ("obwohl fast jeder eine Freisprechanlage hat"), dazu noch Raser oder Alkoholsünder. Er hat skurrile Fälle verhandelt, wie etwa den "Kampf" zwischen einer Autofahrerin und einem Radler, der darin gipfelte, dass die Frau den Radler auf die Motorhaube des Wagens lud, der sich verzweifelt an die Scheibenwischer klammerte, während sie 500 Meter durch die Schleißheimer Straße raste. Oder die wirklich tragischen Fälle. Ein Lkw-Fahrer übersah eine junge Radlerin beim Abbiegen im "toten Winkel", bemerkte den Unfall nicht und fuhr weiter. Ein Augenblicksversagen, die Frau starb. Der Mann erhielt ein Fahrverbot, doch er erhob Einspruch gegen den Strafbefehl. Ob er sich eine Verhandlung wirklich antun wolle, fragte ihn der Richter. Er wollte - und saß dem Bruder und den Eltern der jungen Frau gegenüber, die ihn mit schwersten Vorwürfen überzogen.

Auch Robert A. darf nicht mehr fahren. Der Investmentbanker erscheint im Sakko, zwischen Hose und Schuhen sind seine Fußknöchel zu sehen. Er gibt an, über ein Jahreseinkommen von knapp 300 000 Euro verfügt zu haben. Nebenbei versuchte er sich mit einer eigenen Firma, ging damit baden, wurde wegen vorsätzlichen Bankrotts verurteilt und verlor seinen Job bei der Bank. Da er zweimal betrunken Auto fuhr, ist sein Führerschein weg. Und weil er bei der Medizinisch-Psychologischen Untersuchung eine flapsige Antwort gab, fiel er durch den psychologischen Test. Heute lebt er bei und von seiner Freundin. Zweimal wurde er zudem erwischt, als er ohne Führerschein unterwegs war, zuletzt wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, deren Frist noch läuft.

Nun fuhr er ein drittes Mal unerlaubt mit einem "Drive-in-Auto", wie sein Anwalt Nils Hulinsky sagt. "Drive-Now", korrigiert ihn Richter Jung. "Die letzte Verurteilung blieb ohne Wirkung. Es ist ihm total egal, oder er erkennt den Ernst der Lage nicht", sagt Staatsanwältin Lisa Herzog und fordert fünf Monate Haft ohne Bewährung. Rechtsanwalt Hulinsky hingegen sagt: "In meiner Heimat Zwickau würde ich Paragraf 153a vorschlagen", also das Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Weisungen. "Indiskutabel, in Bayern ist da die Linie strenger", kontert Richter Jung. Der Anwalt argumentiert, sein Mandant stehe kurz davor, nach Ende der offenen Bewährung erneut einen lukrativen Job bei der Bank zu bekommen, alles wäre dann gut. Eine harte Strafe, die sich dann wieder im Strafregister niederschlagen würde, zerstöre quasi sein Leben.

So ganz kann Jung den Wünschen nicht entsprechen. "Man sperrt nicht gerne jemanden ein wegen Fahrens ohne Führerschein", sagt der Richter zwar im Urteil, aber 150 Tagessätze, insgesamt 2250 Euro Strafe, könne er dem 38-Jährigen nicht ersparen. "Wir legen keine Rechtsmittel ein", sagt der Anwalt flugs, grinst, und geht ab.

Die Namen aller Beschuldigten sind geändert, um ihre Anonymität zu wahren.

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SZ vom 22.08.2019
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