Campingstühle, Hocker und ein Koffer als improvisierter Sitz stehen um einen mit Kreide auf dem Bürgersteig aufgezeichneten Wohnzimmertisch. Daneben eine Retro-Stehlampe, die nicht imaginär, sondern real ist. Genauso wie die Trockenblumen, die in einer alten Kanne, mitten auf dem fiktiven Tisch im Zentrum stehen. Die Dekoartikel vollenden das Flair: Vor dem Möbelhaus Böhmler im Tal nahe dem Marienplatz ist ein Wohnzimmer aufgebaut. Nach und nach betreten Passanten den mit rot-weißem Absperrband begrenzten Raum. Um Punkt 15 Uhr läuten die Glocken der Sankt-Peterskirche die Gesprächsrunde ein, und Claudia Döring begrüßt die Gäste im sogenannten Tal-Wohnzimmer.
Die Soziologin ist die Initiatorin des ehrenamtlichen Projektes "Stuhldisteln", unter dem auch die Aktionen im Tal stattfinden. Gemeinsam mit ihren "Freunden", wie Döring sie liebevoll beschreibt, will sie sich Zeit nehmen, um sich bewusst und mit allen Sinnen über die Funktionen und die Potenziale der städtischen Straße klar zu werden. Was Stuhldisteln konkret bedeutet, beschreibt die Münchnerin so: "Sich eine Weile genau dorthin setzen, was alle besitzen, in den öffentlichen Raum."
In den vergangenen Monaten und Jahren hätten bereits mehrere dieser Aktionen stattgefunden, allerdings noch nicht an einer so zentralen Straße wie dem Tal zwischen dem Isartor und dem Marienplatz. Bei dem Zukunftsdialog, bei dem Experten, Betroffene und Interessierte ins Gespräch kommen, geht es um die Themen Geschichte, Kunst, Klima und Verkehr.
Claudia Döring spricht selbst als Referentin in der kleinen Runde, bestehend aus acht Gästen. Immer mal stoßen neue dazu, andere verlassen das spezielle Wohnzimmer wieder. Dörings Themen: der frühere Handel, das Handwerk und die Brauereien im Tal. "Hier war früher immer sehr viel los", fängt Döring an zu erzählen. Viele Menschen haben damals Salz und andere Waren am Marienplatz eingekauft. Nach dem Markt sind viele in die Brauereien im Tal eingekehrt und haben dort auch übernachtet. Heute sind nicht mehr allzu viele Brauereien übrig, nur noch das Schneider Bräuhaus und das Paulaner im Tal stehen an Ort und Stelle.
Was viele nicht mehr wissen: "Das frühere Sterneckerbräu, das im Tal 54, heute 38, stand, war Treffpunkt und Geschäftsstelle der Deutschen Arbeiterpartei (DAP), der Vorgängerin der NSDAP", erzählt die Soziologin weiter. Heute befindet sich dort das Elektrogeschäft Gravis. Sie stellt zur Diskussion, ob an die Geschichte von Orten wie diesen nicht grundsätzlich erinnert werden müsse oder ob es zulässig sei, "diesen Teil der Geschichte auszublenden?"
Die Planerin und Ökonomin Annette Rinn, die nach Döring selbst als Referentin auftritt, findet: "Da unser Grundgedanke ja lautet, wenn das Tal ihr Wohnraum wäre, muss ich ehrlicherweise sagen: Nein, ich möchte diesen Teil der Geschichte nicht bei mir zu Hause haben." Die anderen Teilnehmer könnten sich hingegen eine Art Informationssäule oder -tafel vorstellen, an der sich Passanten gezielt informieren können. "Schließlich ist es ein besonderes Wohnzimmer", entgegnet ein Teilnehmer.
Während die Diskussion läuft, stellt Christoph Gremmer, ein Kommunikationsdesigner, alle genannten Ideen grafisch dar. Nach nur einer Stunde sind ein Dutzend Skizzen entstanden. Da Menschen Visuelles besser abspeichern könnten, so die Idee, wird das sogenannte "Graphic Recording" gerne als Art der Dokumentation verwendet.
Am Sonntag, 18. Oktober, findet von 15 bis 18 Uhr die dritte und letzte Gesprächsrunde vor dem Möbelhaus Böhmler statt. Dabei geht es um Oasen, Stadtgrün und das Nachtleben. Anschließend möchten Claudia Döring und ihre "Freunde" am 25. Oktober alle Ergebnisse und Ideen den Vertretern des Bezirksausschusses, dem Münchner Forum sowie Vertretern des Klimaherbstes vorstellen.