Süddeutsche Zeitung

Altstadt:Fast unter die Räder gekommen

Beim Bau des Altstadtrings war sogar einmal daran gedacht, einen Teil des Viktualienmarkts dafür zu opfern. Nur massiver Bürgerprotest verhinderte diese Pläne - ein Rückblick

Von Axel Winterstein und Ulrike Steinbacher, Altstadt

Wenn der Stadtrat nach der Sommerpause zusammentritt, wird er sich wieder einmal mit der seit langem geforderten Stadtreparatur am Oskar-von-Miller-Ring in der Maxvorstadt befassen. Die Debatte läuft unter Stichwörtern wie Autoschneise, Trennwirkung, Verkehrslärm, gesichtslos. Doch als der Altstadtring in den Fünfzigerjahren geplant und in den Sechzigern gebaut wurde, war genau das beabsichtigt. Das Auto war seinerzeit das Maß aller Dinge, der ungehinderte Verkehrsfluss das wichtigste Ziel der Stadtplanung. "Gegen das Auto Stellung zu nehmen", schrieb Münchens Alt-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel in seinen Erinnerungen, "war in den fünfziger Jahren für einen Politiker nahezu lebensgefährlich". Im Jahr 1964 sah es sogar eine Zeitlang so aus, als würden die Kommunalpolitiker einen Teil des Viktualienmarktes für einen neuen großen Altstadtring opfern. Was heute vollkommen unvorstellbar ist, wurde vor gut 50 Jahren ernsthaft diskutiert, auch wenn sich sehr schnell Widerstand formierte und die Zeitungen von einem "Trassenkrieg" und einem "Aufmarsch der Altstadtringkämpfer" schrieben.

In den Plänen der Stadt war verharmlosend von einem "Streifen" des Marktes die Rede, der dem Ring weichen müsse, zehn Standl hätten für die "autobahn-breite" Straße verschwinden sollen. "Ein Stück altes München ist in Gefahr", warnte Christ und Welt am 17. April 1964. "Der Markt darf nicht unter die Räder kommen", forderte die Süddeutsche Zeitung im Juni 1964. Die Bedrohung gehört seit damals zu den Markt-Legenden. "Anfangs", sagt Elke Fett, die Vorsitzende der Interessengemeinschaft Viktualienmarkt, "wurden die Pläne nicht so ernst genommen, man dachte: 'Das kommt ja gar nicht'. Dann aber war der Widerstand umso größer".

Doch der Reihe nach: Stadtbaurat Karl Meitinger hatte schon 1946 eine Umfahrung der Altstadt gefordert. Der Ring sei die "wahrscheinlich wichtigste städtebauliche Angelegenheit überhaupt". Oberbürgermeister Karl Scharnagl fand die Idee gut: Das sei "eine ebenso großzügige wie zweckdienstliche Grundlage" für den Wiederaufbau der zu 90 Prozent zerstörten Altstadt. Der Ring sollte nach Meitingers Vorstellung "als eine etwa 50 bis 70 Meter breite Straße entstehen und vor allem den übermächtigen Großlastverkehr quer durch die Stadt abfangen und insbesondere die Altstadt von parkenden Autos befreien".

Die Breite von 70 Metern kam nicht von ungefähr: Die gewaltigen Münchner Festungsanlagen aus Bastionen, doppelten Stadtmauern und Gräben, die seit 1792 niedergelegt worden waren, wiesen an der Basis meist eine Breite von 70 Metern auf. Allerdings waren diese Flächen nur am Maximiliansplatz und in der Sonnenstraße tatsächlich frei geblieben, wo man die Befestigungsanlagen heute noch im Stadtbild erkennen kann. An anderen Stellen waren die ehemaligen Stadtmauern überbaut worden, die Häuser hatten großteils den Bomben des Zweiten Weltkriegs getrotzt - und jetzt standen sie im Wortsinn der Trasse des Altstadtrings im Weg, gerade rund um den Viktualienmarkt: an der Blumen-, Frauen- und Westenriederstraße.

1958 traf der Stadtrat die Grundsatzentscheidung für den Bau von Mittlerem Ring und Altstadtring. Letzterer war eine Voraussetzung für die Fußgängerzone, die Zeitungen sprachen von einem "Rettungsring". Denn der Autoverkehr wuchs in den Fünfzigerjahren so stark an, dass etwa die relativ enge Theatinerstraße zwischen Rathaus und Odeonsplatz auf heute unvorstellbare Weise vollgestopft war mit Autos, Trambahn, Mopeds und einer Unzahl von Fahrrädern. Die Fußgänger wurden an den Rand gedrängt.

Für die Planung des Altstadtrings verpflichtete OB Vogel 1961 einen Professor aus Kiel: Herbert Jensen, der als Vater der Münchner Fußgängerzone gilt. In seinem im Oktober 1962 vorgelegten Stadtentwicklungsplan empfahl er ein "System von Fußgängerbereichen", um "eine Stätte menschlicher Begegnung und lebhaften Geschäftslebens zu ermöglichen". Beim Altstadtring legte sich Jensen in dem heiklen, weil dicht bebauten Abschnitt zwischen Angertorstraße und Isartor aber nicht fest, sondern entwickelte drei Varianten: erstens eine Trasse von der Blumenstraße durch die Frauenstraße, für die nicht nur die zehn Standl am Viktualienmarkt hätten abgerissen werden müssen, sondern zum Beispiel auch die 1901 erbaute und im Krieg beschädigte Städtische Riemerschmid-Wirtschaftsschule (siehe Grafik). Oder zweitens eine Schneise durch die Rumfordstraße, der unter anderem die heutige Glockenbachwerkstatt zum Opfer gefallen wäre, ein mittlerweile ebenfalls denkmalgeschütztes ehemaliges Wohnhaus. Oder aber der 50 Meter breite Altstadtring hätte drittens von der Blumen- rechts in die Fraunhoferstraße und dann links in die Klenzestraße abbiegen können und wäre quer über den Gärtnerplatz direkt an der Westseite des Theaters vorbei zum Isartor verlaufen. Alle drei Vorschläge setzten den Abriss ganzer Häuserzeilen voraus.

Jensen selbst befürwortete die Variante Frauenstraße: "Trotz aller Bedenken ist die Trasse über den Viktualienmarkt die günstigste", sagte er der SZ schon im Mai 1963. Dann meldeten sich Gegner wie die "Gemeinschaft zur Erhaltung des Viktualienmarktes" zu Wort, OB Vogel bekam ein Buch mit 10 000 Protestunterschriften überreicht, der Münchner Haus- und Grundbesitzerverein kritisierte ganz modern, es sei "veraltet, Verkehrsprobleme durch Straßenverbreiterungen zu lösen". Und eine SZ-Leserin, Gräfin Hilde zu Pappenheim, geißelte in einem Leserbrief vom März 1964 die Hausabbrüche als "unglaublich, unverschämt und unzumutbar", als "Stadtvandalismus ohnegleichen". München werde "hässlicher, scheußlicher, ärmer, uniformer".

OB Vogel nahm im April 1964 mit einem medienwirksamen Auftritt bei den Standlfrauen ein bisschen Schärfe aus der Debatte. Der Teilabriss des Marktes war da schon vom Tisch, der Abriss ganzer Straßenzüge aber noch nicht: Der Stadtrat entschied sich am 3. Juni 1964 bei fünf Gegenstimmen für die Variante Rumfordstraße und damit für den Abbruch der heute denkmalgeschützten Mietshäuser vom Ende des 19. Jahrhunderts an der Nordseite der Straße. Das Votum war aber zum Glück nicht endgültig. Letztlich setzten sich bessere Einsicht sowie eine "Interessengemeinschaft Rumfordstraße" gegen die autogerechte Stadt durch: Die Planer kehrten zur Variante Frauenstraße zurück, verzichteten aber auf eine Verbreiterung. So kommt es, dass der südliche Altstadtring sich auf schmaler Trasse durch die Frauenstraße zwängt - ganz anders als sein sechsspuriges Pendant in der Maxvorstadt, über das heute jedermann die Nase rümpft.

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SZ vom 14.09.2016
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