Alternatives Pflegemodell:Die Pflege-Oma

Ein besonderer Fall von Pflege: Hildegard Gröbner ist mit 94 Jahren noch einmal umgezogen - zu einer Familie, die für sie sorgt.

Sarina Pfauth

Hildegard Gröbner macht es sich bequem im Wohnzimmer ihres neuen Zuhauses in Olching bei München, sie setzt sich auf die Couch und legt die Beine hoch. Sie trägt einen himmelblauen Mantel, der gut zu den blauen Augen und dem gelockten, weißen Haar passt.

Alternatives Pflegemodell: Hildegard Gröbner mit ihrer Pflege-Familie: Dominic und Michaela Schmelzer und ihre vier Kinder.

Hildegard Gröbner mit ihrer Pflege-Familie: Dominic und Michaela Schmelzer und ihre vier Kinder.

(Foto: Foto: privat)

Unter ihren Beinen sucht der zweijährige Tizian nach einem Keks. Neben ihr sitzen zwei Erwachsene, Michaela Schmelzer und ihr Mann Dominic, sie sind so etwas wie Pflegeeltern. Nur ist die Person, die sie betreuen, kein Kind mehr, sondern eine alte Dame. Bei ihrem Einzug war Hildegard Gröbner 94 Jahre alt. Seit fünf Monaten wohnt sie nun bereits hier, zusammen mit dem Ehepaar Schmelzer und den vier Kindern, zehn, acht, sechs und zwei Jahre alt.

Hildegard Gröbner hatte fürchterliche Angst davor, ins Heim zu müssen, wo auch alle anderen gebrechlich sind und der Tod sozusagen mit am Tisch sitzt. Aber in den vergangenen Jahren wurde das Leben in ihrer Wohnung für sie immer beschwerlicher. Zwar kam der Pflegedienst zweimal täglich vorbei, mittags gab es Essen auf Rädern, und zwischendurch begleitete eine Gesellschafterin sie zum Arzt und ins Café.

Der Traum von einem offenen Haus

Doch irgendwann ging es dann eben doch nicht mehr mit dem Alleinsein. Ihre drei Kinder konnten die alte Mutter nicht bei sich zu Hause aufnehmen, und wären die Schmelzers nicht gewesen, hätte wohl kein Weg am Heim vorbei geführt.

Der Ausweg lag ganz nahe. Michaela Schmelzer kannte eine der Gröbner-Töchter von Gebetstreffen, und die 46-Jährige hatte hier und da schon bei der Betreuung von Hildegard Gröbner ausgeholfen; die Wohnung der alten Frau war außerdem nur ein paar Gehminuten vom Haus der Schmelzers entfernt. Als Michaela Schmelzer ihrer Familie dann vorschlug, die betagte Dame aufzunehmen, waren Mann und Kinder gleich einverstanden: "Wir haben schon vor unserer Hochzeit von einem großen, offenen Haus geträumt - und genügend Platz, um jemanden zu pflegen."

Michaela Schmelzer wäscht, putzt und kocht nun für Hildegard Gröbner, bringt sie zu Bett und vor allem: Sie ist da. Für die Angehörigen ist das der wichtigste Vorteil. "Man schläft ruhiger, wenn man weiß, dass die Mutti betreut wird", sagt Ingeborg Hermann-Gröbner, eine der Töchter. Fast alle ihre Bekannten mussten die Eltern ins Pflegeheim geben, "das waren ganz bittere Erfahrungen", erzählt die 63-Jährige.

Es ist tatsächlich ein ungewöhnliches Pflegemodell. Etwa zwei Drittel der alten Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, werden immer noch von Angehörigen und ambulanten Diensten zu Hause versorgt. 32 Prozent der Pflegebedürftigen leben laut der aktuellen Pflegestatistik in Heimen. Auch einige Alternativen, wie zum Beispiel Demenz-WGs, gewinnen zunehmend Interessenten. Dass ein alter Mensch aber in eine fremde Familie zieht, ist selten.

Seite 2: "Manche sagen: Ihr seid verrückt!"

Es gibt jedoch mehrere Organisationen, die versuchen, solche Gastfamilien als Heimalternative zu etablieren. So will der Verein Arkade, der in Baden-Württemberg seit 24 Jahren betreutes Wohnen in Familien für psychisch Kranke anbietet, in Zukunft auch Senioren an Pflegefamilien vermitteln. Die Arbeiterwohlfahrt Ostwestfalen-Lippe hat ein solches Projekt bereits vor zwei Jahren gestartet. Und im Schweizer Kanton Bern bieten Bauernfamilien bereits seit 1998 Pflegeplätze an.

Manche sagen: Ihr seid verrückt!

Als Frau Gröbner zwischen Couch, Hocker und Esstisch rangiert, bleibt der Rollator an der Sofakante hängen. Michaela Schmelzer gibt dem Gehwagen im Vorbeigehen einen sanften Stoß. Dann klopft sie Kissen auf, gießt frischen Tee in eine Tasse.

Die Schmelzers haben sich dazu entschieden, ihr Leben mit der betagten Dame zu teilen, weil sie als gläubige Christen davon überzeugt sind, dass sie eine Verantwortung den Alten gegenüber haben. Michaela Schmelzer schätzt es außerdem, dass sie ihren Beruf in den Familienalltag integrieren kann. Für die Betreuung bekommt sie 400 Euro im Monat, außerdem bezahlt Hildegard Gröbner Miete für ihr Zimmer.

Manche Leute halten Michaela Schmelzer für verrückt, das haben sie ihr schon ins Gesicht gesagt. Doch sie selbst versichert: "Ich gewinne wahnsinnig viel." Sie lerne durch das Zusammenleben mit Hildegard Gröbner ganz neue Seiten an ihren Kindern kennen, "und weil ich selbst in einem Drei-Generationen-Haushalt aufgewachsen bin, finde ich es bereichernd, auch das Ende mitzukriegen. Das gehört dazu."

Es ist aber auch nicht nur schön und einfach, das Leben mit einer fremden, alten Frau. An schlechten Tagen stellt Hildegard Gröbner zum Beispiel immer wieder die gleichen Fragen. "Spaßeshalber haben wir gesagt: Wir haben jetzt ein fünftes Kind", erzählt die gelernte Krankengymnastin. "Der Frust und auch die Traurigkeit dabei ist: Alte Menschen kann und darf man nicht erziehen, das entspricht ihnen nicht. Beim Kind hat man die Hoffnung, dass es dazulernen wird."

Seite 3: Hat dieses Pflegemodell Zukunft?

Obgleich der Bedarf an Heim-Alternativen riesig ist, hat Sigrid Kallfass, Professorin für Pflegepädagogik an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, Zweifel daran, dass dieses Pflegemodell in Zukunft eine große Rolle spielen wird. Der Grund: Sie hält die Zielgruppe für sehr begrenzt. "Die Alten, die familienbegeistert sind, bleiben normalerweise bei ihren eigenen Kindern. Und die anderen ziehen das Heim einer fremden Familie vor." Andere Experten glauben ebenfalls, dass nur wenige Senioren den Mut aufbringen, sich noch einmal auf eine neue Familie einzulassen.

So hatte sich auch Hildegard Gröbner große Sorgen gemacht, dass ihr der Alltag mit vier quirligen Kindern bald zu viel sein würde. Diese Furcht war, wie sich inzwischen herausgestellt hat, unbegründet: Gröbner freut sich, wenn der Zweijährige ihr auf der Mundharmonika ein Ständchen spielt, obwohl das wahrlich noch nicht konzertreif klingt. Der Kleine darf sogar ab und zu vorne auf ihrem Gehwagen sitzen.

Vorstellungen und Ansprüche klären

Es ist kurz vor 13 Uhr, gleich wird die Fußpflegerin klingeln. Auch ihre Töchter besuchen sie so oft wie möglich in ihrem neuen Zuhause. Gröbners Angehörige stehen in engem Kontakt zur Familie Schmelzer, schon vor dem Umzug gab es lange Gespräche über die Vorstellungen und Ansprüche der beiden Familien. Das sei trotzdem nicht genug, findet Ingeborg Hermann-Gröbner: "Man muss sehr detailliert bereden, was zu den Aufgaben der Pflegefamilie gehört." Michaela Schmelzer stimmt ihr da zu.

Zum Beispiel hatten die Angehörigen mit den Schmelzers ausgemacht, dass der ambulante Pflegedienst auch für abends engagiert werden kann, falls sich der Zustand der alten Dame "wesentlich verschlechtert" - was das aber genau bedeutet, darüber hatte sich keiner Gedanken gemacht.

Im Moment geht es Hildegard Gröbner gesundheitlich nicht besonders gut, die Betreuung wird nun sehr viel anstrengender. "Wir hoffen aber, dass sie nicht ins Heim muss und einmal hier sterben kann", sagt Michaela Schmelzer. Mit den Angehörigen hat sie vereinbart, dass ein weiterer Umzug in Frage kommt, falls sie die Aufgabe nicht mehr bewältigen kann. Wann die Grenze erreicht wäre? Die 46-Jährige überlegt kurz. "Wenn ich merke, dass meine Familie oder meine Gesundheit drunter leidet." Sie stockt. "Aber wenn man so was macht, gibt man nicht so einfach auf."

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