Alternativen zur Fixierung in Pflegeheimen:Ein letztes bisschen Freiheit

Alternativen zur Fixierung in Pflegeheimen: Sogenannte Niederflurbetten, die sich bis auf den Boden absenken lassen, und Sitzsäcke kommen in den Münchenstift-Häusern zum Einsatz, damit Bewohner nicht fixiert werden müssen.

Sogenannte Niederflurbetten, die sich bis auf den Boden absenken lassen, und Sitzsäcke kommen in den Münchenstift-Häusern zum Einsatz, damit Bewohner nicht fixiert werden müssen.

(Foto: Catherina Hess)

Das Gefühl völliger Ohnmacht: Es gibt noch immer Pflege- oder Altenheime, in denen fast jeder zweite Bewohner fixiert wird. Doch Fürsorge sieht anders aus. Die Münchenstift-Häuser zeigen, dass es auch Alternativen zu Bettgittern und Bauchgurten gibt.

Von Sven Loerzer

Mit großen Augen blickt der Mann im Rollstuhl Tanja Gegenfurtner an, doch er kann der Pflegedienstleiterin des Münchenstift-Hauses St. Martin nichts sagen. Ein Schlaganfall hat den Orthopädiemechaniker Dong H. im Alter von 57 Jahren am Arbeitsplatz ereilt und mitten aus dem Berufsleben gerissen. "Zwei Wochen lag er im Koma", sagt seine Tochter Thao, "dann hat er langsam seine Augen geöffnet."

Jetzt sitzt Dong H., der als Bootsflüchtling aus Vietnam kam und vom Krieg noch Geschosssplitter im Körper hat, im Rollstuhl. Er ist halbseitig gelähmt und kann nicht mehr sprechen. Auch das Schlucktraining zeigte leider keinen Erfolg. Weil die Gefahr bestünde, dass er sonst Speichel einatmet, muss ihn eine Trachealkanüle am Hals mit Luft versorgen. Da er mit seiner einzig bewegungsfähigen linken Hand immer wieder versucht hat, die Kanüle zu ziehen, ist ihm - gerichtlich genehmigt - die Hand festgebunden worden, am Bett, wie am Rollstuhl. Das nahm ihm die letzte Bewegungsmöglichkeit.

So kam er vor einem knappen Jahr aus der Reha-Klinik in das Münchenstift-Haus St. Martin in Giesing. Und bei der Fesselung wäre es wohl auch geblieben, wenn dort nicht nach einem Weg gesucht worden wäre, ihm die letzte Bewegungsfreiheit zu lassen.

"Freiheitsentziehende Maßnahmen" (FEM) heißt im Fachjargon der Einsatz von Bettgitter, Fixierungsgurten im Bett oder Vorstecktischen bei Rollstühlen. Sie sollen vor allem bei Menschen, die unter Demenz leiden, Stürze oder selbstschädigendes Verhalten verhindern.

Auch wenn das Bewusstsein im Laufe der Jahre gewachsen ist, als wie schwerwiegend solche Eingriffe erlebt werden, gibt es immer noch Heime, wo fast jeder zweite Bewohner "fixiert" wird. Dass sich auch bei schwierigen Konstellationen fast immer Alternativen finden lassen, um möglichst viel Sicherheit zu gewährleisten, ohne bei den Betroffenen das Gefühl völliger Ohnmacht auszulösen, hat jetzt der städtische Altenheimträger Münchenstift bewiesen.

"Bei uns gehen die freiheitsentziehenden Maßnahmen inzwischen gegen Null", sagt Münchenstift-Chef Gerd Peter und ist zufrieden, dieses Ziel noch vor seinem Wechsel in den Ruhestand Ende März erreicht zuhaben. Nur 0,4 Prozent der etwa 2000 Bewohner der Häuser des Münchenstifts seien noch fixiert, mit gerichtlichem Beschluss. "Das ist eine fachliche Leistung, auf die wir stolz sind", betont Peter. "Meine Mitarbeiter haben es zu ihrer Sache gemacht, Fixierungen zu beenden." So sind von den 272 Bewohnern in St. Martin nur zwei Bewohnerinnen fixiert, während es vor einem Jahr noch elf waren.

In einem Fall handelt es sich um eine demente Bewohnerin mit hohem Bewegungsdrang, die aber auch sehr stark sturzgefährdet ist. Damit sie sich bewegen kann, hat sie einen sogenannten Combo Walker, eine fahrbare Geh- und Stehhilfe, die sie allerdings nicht mehr aus eigener Kraft verlassen kann. Im zweiten Fall handelt es sich um eine demente Bewohnerin, die das Bettgitter dazu benutzt, um sich im Bett solange zu drehen, bis sie ihre Schlafposition gefunden hat.

Um Fixierungen zu vermeiden, setzen die Münchenstift-Häuser eine Fülle von Hilfsmitteln ein. Eine große Rolle spielen dabei die sogenannten Niederflurbetten. Sie lassen sich von einem Elektromotor angetrieben bis auf Bodenniveau absenken und machen Bettgitter überflüssig bei Menschen, die aus dem Bett zu fallen drohen. Bei der dementen Bewohnerin in St. Martin haben die Pflegekräfte diese Lösung ausprobiert. Doch weil die Frau nur noch schwer in den Schlaf fand und beim Drehen auf den Boden rutschte, blieb es dann doch beim Bettgitter. Eine Ausnahme.

Der Erfolg lässt sich in seinen Augen sehen

Fast jedes fünfte Bett in den Münchenstift-Häusern ist bereits ein Niederflurbett. "Wir haben viel in die Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen investiert", sagt Peter. Anfänglich wurde zusätzlich eine Matratze neben das abgesenkte Bett gelegt, inzwischen "nehmen wir bunte Sitzsäcke, das sieht besser aus", sagt Susanne Krempl, Leiterin der Qualitätssicherung in der Münchenstift-Zentrale. Sie war lange Jahre bei der Münchner Heimaufsicht, die nachdrücklich und erfolgreich für einen Abbau von freiheitsentziehenden Maßnahmen eintritt.

Waren nach Daten der Münchner Heimaufsicht 2008 noch 19 Prozent aller Bewohner Münchner Pflegeheime davon betroffen, ist deren Anteil bis 2011 auf 10,6 Prozent gesunken. Doch noch immer gibt es viele Heime, wo das vermeintlich fürsorgliche Hochziehen der Bettgitter zur allabendlichen Routine gehört.

Wirkliche Fürsorge aber sieht anders aus: Moderne Technik kann dabei durchaus eine wertvolle Hilfe sein. Kamen zum Beispiel Bettgitter zum Einsatz, damit Menschen, die zwar in der Lage sind, aus dem Bett aufzustehen, aber dann sehr wackelig auf den Beinen sind, nicht in Sturzgefahr geraten, sind nun "Optiscans" eine echte Alternative: Die Geräte registrieren, wenn ein Bewohner seine Beine aus dem Bett zum Boden bewegt, und lösen die Rufanlage aus. "Dann können wir den Bewohner unterstützen, bevor er stürzt, ihn zum Beispiel daran erinnern, dass er seinen Rollator benützt, um zur Toilette zu gehen", sagt Tanja Gegenfurtner.

Inzwischen sei es auch gelungen, "die latente Angst der Mitarbeiter, für einen Sturz für die Behandlungskosten von der Krankenkasse zur Rechenschaft gezogen zu werden", abzubauen.

Auch Vorbehalte von Angehörigen sind zu überwinden, die sich darauf berufen, im Krankenhaus habe die Mutter immer ein Bettgitter gehabt. "Dann müssen wir sie darüber aufklären, dass es auch anders geht", sagt Gegenfurtner. Zudem "bergen Bettgitter und Bauchgurte ein riesiges Sicherheitsrisiko", es seien "scheußliche Unfälle" möglich.

In schwierigen Situationen helfen Gespräche mit allen Beteiligten weiter. Bei Dong H. zum Beispiel holten Gegenfurtner und Krempl die Heimaufsicht, die Hausärztin und die Tochter an einen Tisch, um zu klären, wie sich die Fesselung des einzig bewegungsfähigen Arms vermeiden lässt. Dabei kam heraus, dass der Sohn von Dong H. nach einem schweren Unfall ebenfalls eine Trachealkanüle hatte, die er sich dann selber rauszog: Möglicherweise glaubte deshalb der Vater, dass es auch bei ihm ohne Kanüle gehen könnte.

Doch bei Dong H. wäre das nicht der Fall, erklärte die Ärztin. Gleichwohl konnte sie die Mitarbeiter beruhigen: Dong H. gerate nicht in Gefahr, wenn nicht sofort bemerkt werde, dass er seine Kanüle herausgezogen hat. Das gab den Mitarbeitern genügend Sicherheit, die Hand von Dong H. zunächst tagsüber ungefesselt zu lassen.

Wann immer der Mann die Hand zum Hals führte, haben ihn Pflegekräfte oder Angehörige mit sanftem Nachdruck bei der Hand genommen und sie gestreichelt. Was ihm diese Fürsorge bedeutet, lässt sich nur noch aus seinen Augen deuten. Seine Tochter Thao, die eigens nach München umgezogen ist, um ihn so oft wie möglich zu besuchen, jedenfalls ist außerordentlich froh, dass es von wenigen unruhigen Nächten abgesehen, inzwischen auch "ohne Freiheitsberaubung" geht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: