Altenpflege bei Migranten:Angst vor dem deutschen Heim

Altenheim in Hannover

"Die eigene Unabhängigkeit aufzugeben, ist ein Horror über Landesgrenzen hinaus", sagt Sabine Schirlitz, die bei der Inneren Mission München den Fachdienst für ältere Migrantinnen und Migranten leitet.

(Foto: dpa)

Kein Gebetsraum und kein Seelsorger, dafür Schweinefleisch auf dem Speiseplan: Altenheime in München haben bei vielen Migranten einen schlechten Ruf. Sie sind nicht auf religiöse und sprachliche Unterschiede eingestellt. Das treibt viele Familien an die Belastungsgrenze. Dabei geht es auch anders.

Von Paul Munzinger und Michael Risel

Güler Tepedelen bringt Tee und Börek, selbst gebacken. Der Fernseher läuft, Adanali, eine türkische Krimiserie. Ihre Schwiegermutter schläft im Nebenzimmer. Sie ist 90 Jahre alt und dement. Manchmal vergisst sie, dass sie schon gefrühstückt hat, manchmal erkennt sie ihre eigene Tochter nicht. Sie muss gepflegt werden. Deshalb hat Tepedelen vor sechs Jahren aufgehört zu arbeiten. Seitdem leben sie zu dritt in der Wohnung, Tepedelen, ihr Mann, ihre Schwiegermutter. 78 Quadratmeter, 11. Stock, ein Wohnblock in Taufkirchen.

Fast 18 Prozent der in München lebenden über 80-Jährigen haben das, was man einen Migrationshintergrund nennt. Es sind die Gastarbeiter der ersten Generation. Italiener, Griechen, Türken, die in den Sechzigerjahren zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Damals dachte man, sie würden wieder gehen. Doch sie sind geblieben und alt geworden. So wie Tepedelens Schwiegermutter. Und genau wie sie werden die meisten zuhause gepflegt, wenn es nötig wird. Weniger als fünf Prozent der Bewohner der Münchner Alten- und Pflegeheime haben einen Migrationshintergrund.

"Altenheime haben bei Migranten einen schlechten Ruf", sagt Sabine Schirlitz, die bei der Inneren Mission München den Fachdienst für ältere Migrantinnen und Migranten leitet. Ob die alten Menschen aus christlichen oder muslimischen Ländern stammen, spiele keine Rolle, sagt sie. "Die eigene Unabhängigkeit aufzugeben, ist ein Horror über Landesgrenzen hinaus."

Susanne Liebmann sieht dagegen durchaus kulturelle Unterschiede. Sie arbeitet bei einem ambulanten Pflegedienst, der auf die Betreuung von Migranten spezialisiert ist. In der muslimischen Kultur herrschten andere Vorstellungen von Krankheit und Tod, vom Alter und von den Alten, sagt sie. Die eigenen Eltern in ein Heim zu geben, sei nicht üblich, es gelte als Versagen, als Eingeständnis des Scheiterns. "In muslimischen Kulturen pflegt die Familie solange, bis sie umfällt."

"Kein Altenheim mit interkulturellem Pflegekonzept"

Für Güler Tepedelen ist es nie in Frage gekommen, ihre Schwiegermutter in ein Pflegeheim zu geben. "Vom Herzen wollen wir das nicht", sagt sie und schenkt Tee nach. Sie ist 56, eine kleine Frau, ihr Lachen ist offen und herzlich. Erst wenn es nicht mehr anders geht, werde sie über ein Altenheim nachdenken - noch geht es.

Ihr Mann ist Busfahrer. Wenn er von der Arbeit kommt, geht sie einkaufen oder trifft sich mit Freundinnen. Einer muss immer daheim sein, falls etwas passiert. Wenn sie gemeinsam essen gehen wollen oder ins Kino, kommt einer ihrer Söhne oder ein Nachbar. Auf jeden Fall jemand, der türkisch spricht. Deutsch kann die Schwiegermutter nicht mehr. Früher konnte sie es.

Die Sprache ist ein Grund, warum viele ältere Migranten sich ein Leben in deutschen Altenheimen nicht vorstellen können. Ein Grund von vielen. Schon seit einigen Jahren hat die Politik die Problematik erkannt. Auch die ersten Altenheime haben reagiert, "kultursensible Pflege" heißt das Konzept. Doch in München ist bisher nichts passiert. "In der ganzen Stadt gibt es kein Altenheim mit interkulturellem Pflegekonzept", sagt die Psychiaterin und Demenzexpertin Elif Cindik. "Man hat sich gar nicht um das Etablieren von Strukturen gekümmert, sondern darauf gebaut, dass die Migranten ihren Lebensabend in der alten Heimat verbringen."

Vorbilder in Frankfurt und Duisburg

Die älteren Migranten, die Cindik aus ihrer Münchner Praxis kennt, haben Angst, in einem deutschen Heim zu landen. Die wenigen, die dort sind, haben häufig keine Angehörigen mehr, "vereinsamt in der Migration", sagt sie. An den Demenzübungen könnten sie nicht teilnehmen, weil sie keine deutschen Lieder oder Sprichwörter kennen. Für die Muslime gebe es keinen Gebetsraum und keinen Seelsorger, dafür Schweinefleisch auf dem Speiseplan. Einer habe ihr gesagt, er fühle sich wie im Krieg hinter den feindlichen Linien. "Es gibt in München kein Altenheim, wo ich meine Eltern guten Gewissens unterbringen würde", sagt Cindik.

Güler Tepedelen würde später gerne zurück in die Türkei, so wie die meisten Türken, die sie kennt. So wie ihre Eltern. "Wir haben immer noch Sehnsucht", sagt sie. Dann holt sie eine Kiste mit Familienfotos aus dem Regal: ihre Verlobung, ihr Mann, als er noch jung war in Schwarz-Weiß, ihre Söhne in Farbe. Beide wohnen in der Nähe von München, der eine arbeitet in der Gastronomie, der andere verkauft BMWs. Die Türkei kennen sie nur aus dem Urlaub. "Wir würden gerne zurück, aber wir können nicht", sagt Tepedelen.

In Altenheimen heißt es: "Keine Nachfrage, kein Angebot"

Für viele Migranten, die vor Jahrzehnten zum Arbeiten kamen, sei Deutschland zum Lebensmittelpunkt geworden, sagt Gülseren Demirel, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Münchner Stadtrat - nicht zuletzt, weil die Kinder und Enkel hier leben. Darauf müsse sich auch das Pflegesystem einstellen.

Anfang März ist Demirel zusammen mit Kollegen aus dem Sozialausschuss nach Frankfurt und nach Duisburg gefahren. Sie haben zwei Altenheime besucht, die "Pionierarbeit" geleistet haben, wie Demirel sagt. Es gibt dort einen muslimischen Gebetsraum und einen Imam, der regelmäßig kommt. Es gibt Halal-Fleisch und getrenntes Kochgeschirr - und Satellitenschüsseln mit internationalem Fernsehempfang. Die Heime haben gezielt aufgeklärt, sie sind in die Moscheen gegangen, um den Muslimen klar zu machen, "dass es keine Sünde ist, die Eltern in ein Pflegeheim zu geben", sagt Demirel.

Fragt man in Münchner Altenheimen nach, warum sie sich nicht besser auf die Migranten einstellen, dann heißt es: keine Nachfrage, kein Angebot. Und wahrscheinlich liegt genau darin das Problem. Die Altenheime sagen: Wenn die Migranten zu uns kommen, dann stellen wir uns auf ihre Bedürfnisse ein. Die Migranten sagen: Wenn die Altenheime sich auf unsere Bedürfnisse einstellen, dann kommen wir. Alle reden aneinander vorbei. Und wollen eigentlich das Gleiche.

Auf der Anrichte über dem Fernseher der Tepedelens liegen Bücher, Zeitschriften und Bilder mit Sinnsprüchen, auf Türkisch, wie alles im Wohnzimmer. Nur der Satz auf dem hölzernen Kerzenständer, den Kolleginnen ihr vor einigen Jahren geschenkt haben, ist auf Deutsch: "Die Liebe einer Mutter blüht für immer." Die Schwiegermutter ist jetzt aufgewacht, man hört sie durch die Wohnzimmertür. Tepedelen geht nachsehen.

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