Alleinerziehende in München:Wenn Menschen zu Robotern werden

Alleinerziehende in München: Tamara Bergmann arbeitet, und trotzdem hat sie jeden Monat nur so viel Geld zur Verfügung wie ein Hartz-IV-Empfänger.

Tamara Bergmann arbeitet, und trotzdem hat sie jeden Monat nur so viel Geld zur Verfügung wie ein Hartz-IV-Empfänger.

(Foto: Catherina Hess)

Dominiks Schuhe sind durchgelaufen, Selinas Kleiderschrank fällt bald auseinander: Tamara Bergmann hat einen Vollzeitjob, doch in München reicht das nicht, um davon leben zu können. Schon gar nicht als Alleinerziehende mit drei Kindern.

Von Christina Warta

"Moment", sagt Tamara Bergmann, "ich mache das Licht an." Sie bittet an den Tisch und drückt auf den Schalter, doch die Lampe bleibt dunkel. "Tja", sagt Tamara Bergmann lapidar, "ist kaputt." Kaputt wie so vieles in dieser Wohnung in Berg am Laim: Die Couch hat einen langen Riss im Bezug. Der Bodenbelag ist arg mitgenommen und unter dem Computerstuhl kreisrund abgewetzt. Die Wände bräuchten dringend einen neuen Anstrich. Doch wie soll sie das bezahlen? "Heute ist Dienstag", sagt Tamara Bergmann. "Seit Donnerstag ist das Geld aus."

Die 28-jährige Münchnerin hat drei Kinder, für die sie völlig alleine sorgt: den zwölfjährigen "Mo", den neunjährigen Dominik und eine Tochter, Selina, die fünf Jahre alt ist (alle Namen geändert). Tamara Bergmann muss sich und ihre Familie alleine durchbringen, nachdem ihr Ex-Mann verhaftet wurde. Der Alkohol- und Drogenabhängige hat sie aufs Schlimmste geschlagen, vor den Kindern, und sogar hat mit Mord gedroht. Noch sitzt er im Gefängnis.

Tamara Bergmann arbeitet in Vollzeit, doch ihr Verdienst reicht trotzdem nicht. In einer reichen Stadt wie München sind die Mieten hoch, Nahrungsmittel und Kleidung sind teuer, die Preise für Energie oder den öffentlichen Nahverkehr steigen jedes Jahr. Und Tamara Bergmann ist eine von jenen, die für ihre Arbeit nur unterdurchschnittlich bezahlt werden: Sie ist weiblich, alleinerziehend, hat keine Ausbildung - und damit ein besonders hohes Risiko, trotz ihrer Arbeit arm zu bleiben.

Tausende Menschen wie Tamara Bergmann arbeiten in München als Reinigungskräfte, in der Gastronomie oder anderen Niedriglohnsektoren. Doch ihr Lohn reicht einfach nicht aus, um die Kosten für ihren Lebensunterhalt zu decken. 14 500 Personen bekommen in der Stadt deshalb zusätzliche Sozialleistungen, obwohl sie einem regelmäßigen Job nachgehen.

Tamara Bergmann dagegen gehört nicht zu dieser Gruppe: Ihr Verdienst liegt gerade über der Grenze, über der man staatliche Hilfen bekommen kann. Dabei hätte sie als Hartz-IV-Empfängerin wohl genauso viel Geld zur Verfügung wie jetzt, sagt sie. Doch die Tage zu Hause zu verbummeln, das komme für sie nicht infrage. "Ich will lieber für mein Geld arbeiten, und auch die Kinder sollen lernen, dass man für Geld arbeiten muss", sagt die schmale Frau mit den dunklen Schatten unter den Augen.

Insbesondere für die Kinder ist der Alltag in ärmlichen Verhältnissen schwierig. Wer einen Schritt aus den Randbezirken in die Innenstadt tut, dem tun sich sogleich die Verheißungen der Konsumwelt auf: das neueste Handy, schicke Kleidung, Marken-Turnschuhe - für Jugendliche entscheiden solche Dinge darüber, ob sie auf dem Schulhof akzeptiert werden oder nicht. "Manche Eltern geben dem Drängen ihrer Kinder dann doch hin und wieder nach", sagt Stephanie Schilling, Bezirkssozialpädagogin in Laim und auf der Schwanthalerhöhe. "Aber dann fehlt das Geld sofort für wichtigere Dinge."

Natürlich soll am besten niemand erfahren, wie prekär die finanzielle Situation in solchen Familien ist. "Viele versuchen, das Bild von der Normalität möglichst lange aufrecht zu erhalten", sagt Schilling. Sie scheuten sich, ihre Probleme nach außen zu tragen. "Hilfen anzunehmen, ist gerade solchen Menschen wahnsinnig peinlich." Das trifft auch auf Nadia Riederer (Name geändert) zu: Sie stammt ursprünglich aus Russland, heiratete vor sieben Jahren einen Deutschen und zog nach München. Die Ehe scheiterte bald, die sechsjährige Tochter hat einen anderen Vater, der später verunglückte.

Nadia Riederer hat vieles mitgemacht, sie fühlt sich vom Alltag stark belastet, doch sie sagt: "Der Lebensstandard hier ist perfekt." Nirgendwo sonst könne ihre Tochter so wohlbehalten aufwachsen, nirgendwo sonst wolle sie hin. Was sie brauche? Sie windet sich, sagt erst mal nichts. Dass ihre Tochter keinen eigenen Schreibtisch hat, keinen passenden Stuhl dazu, dass auch die Kostenpauschale zu Beginn des Schuljahres ihr Budget überschritten hat, davon spricht sie nicht. Darüber, dass sie selbst kaum Winterkleidung hat, schweigt sie ebenfalls.

Taktiken, um den Alltag zu meistern

Die Betriebswirtschaftlerin hat einen russischen Universitätsabschluss, doch in Deutschland hat sie beruflich nicht Fuß fassen können. Sie arbeitet halbtags als Pflegekraft, nachmittags kümmert sie sich um ihre Tochter, sie bekommen zusätzlich finanzielle Unterstützung. Alle Alltagsprobleme muss Riederer allein stemmen: Verwandte hat sie keine hierzulande, Freunde auch nicht viele. "Ich habe null Minuten frei", sagt sie, "da kann man keine Freundschaften pflegen." Sie senkt den Kopf in ihre Hände, atmet schwer. "Ich komme mir vor wie ein Roboter, nicht wie ein Mensch." Gerne würde sie einen Deutschkurs machen oder den Führerschein, dann könnte sie einen besseren Job bekommen. Doch die Zeit dafür hat Nadia Riederer nicht.

Also versucht sie, wenigstens ihrer Tochter so viel wie möglich zu bieten. Im engen Wohnzimmer steht ein Synthesizer an der Wand: Seit wenigen Wochen spielt die Kleine Klavier, sie wollte es unbedingt lernen. Die Klavierstunden gibt eine Lehrerin mit Extrarabatt, weil sie die Situation der Riederers kennt. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Buntstifte und Papier. Man merkt: Nadia Riederer ist eine umsichtige, eine engagierte Mutter. Sie spricht vom Theater, vom nahen Schwimmbad in Pasing, vom Deutschen Museum - alles Orte, die sie mit ihrer Tochter gerne besuchen würde. "Aber es ist zu teuer. Du kannst dir so etwas nur einmal im Jahr leisten."

Wenn eine Mutter ihrer Tochter keine Winterstiefel kaufen kann, wenn am Ende des Monats nur noch Kartoffeln auf den Tisch kommen oder das Geld fehlt für Schulausflüge oder einen Zirkel, dann ist das in dieser Gesellschaft schlimm genug. Ähnlich schwer aber mag die soziale Ausgrenzung wiegen, die einhergeht mit allzu knappen Budgets. Jeder Kinobesuch ist zu teuer, auf dem Weihnachtsmarkt kosten sogar die kandierten Äpfel oder der Lebkuchen zu viel. Viele Betroffene ziehen sich zurück in ihre Wohnungen. Hier, immerhin, müssen sie sich nicht rechtfertigen für abgetretene Schuhe oder dafür, dass sie keinen Kommentar über den neuesten James-Bond-Film beisteuern können. Hierhin wird aber auch kein Fremder eingeladen: Soll schließlich keiner sehen, wie beengt die Familie lebt, dass die Kinder auf Matratzen auf dem Boden schlafen, dass der Teppich alt und abgewetzt ist.

Tamara Bergmann hat die Schläge und Bedrohungen durch ihren Mann im vergangenen August ganz gut weggesteckt - sagt sie. "Es passt alles", behauptet sie und lächelt dabei unsicher. "Eine Depression oder so etwas kann ich mir ja auch wegen der Kinder nicht leisten." Die haben die schlimme Zeit nicht ganz so schnell verkraftet. "Mo ist schon sehr selbständig, aber Dominik ist unser Problemfall", sagt die Mutter. Immerhin: "Selina ist unser Sonnenschein." Die Familie hat sich ein paar Taktiken zurechtgelegt, wie sie den Alltag trotz des knappen Lohns der Mutter meistern können. Eine der wichtigsten ist: "Wenn das Gehalt da ist, gehen wir sofort in den Supermarkt und kaufen Nahrungsmittel ein", sagt die Mutter. "Wenn uns dann später das Geld ausgeht, haben die Kinder wenigstens immer noch zu essen." Für dringend notwendige Reparaturen oder einen Eimer Farbe aber bleibt einfach nie genug Geld übrig. "Dabei würden wir gerne die Wohnung renovieren, damit auch die Erinnerungen an die Zeit im August endlich verschwinden."

Schon lange ist außerdem Tamara Bergmanns Bettgestell zerbrochen, Selinas Kleiderschrank fällt auseinander. Alle drei Kinder und auch die Mutter bräuchten mal wieder neue Winterkleidung und Ersatz für die abgetretenen Schuhe. "Und dann wäre es natürlich toll, wenn ich den Kindern mal wieder Weihnachtsgeschenke kaufen könnte", sagt Tamara Bergmann und seufzt. "Das hatten wir einfach schon sehr lange nicht mehr."

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