Vida hat ihr ganzes Leben auf einer Insel im Norden verbracht, ihre Zukunft mit Heirat ihres Kindheitsfreundes und der Übernahme des elterlichen Geschäfts, das einzige in einem Umkreis von 36 Seemeilen, scheint vorgezeichnet. „Es geschah nicht oft, dass jemand von außerhalb sich hier niederließ, das Gegenteil war der Fall. Die Leute verstarben oder sie zogen fort, weil eine Insel, hoch im Norden und weit entfernt vom Festland, ihren Bewohnern kaum etwas bot, um sie zu halten. Wenig Arbeit, noch weniger Perspektive. Dafür jede Menge Wasser, schwarz wie die Tiefe“, erzählt die Ich-Erzählerin in Alexandra Blöchls Roman „Was das Meer verspricht“ (dtv), den sie gemeinsam mit Michaela Maria Müller („Zonen der Zeit“) und Constantin Satüpo („Am Hügel“) am 24. Juni beim „Sommer-Mix“ im Literaturhaus München vorstellt.
Alles ändert sich für Vida, als eine junge Frau mit silberfarbenem langem Haar ins Nachbarhaus zieht. „Marie war gekommen, und mit ihr hatten die Sichtungen von Meerjungfrauen dramatisch zugenommen“, konstatiert die Ich-Erzählerin, während sie fasziniert beobachtet, wie die türkisblaue Flosse der neuen Nachbarin durchs Wasser des Hafenbeckens gleitet.
Fast vermutet man als Leserin in Marie eine jener mythischen Undinen-Gestalten, doch sie ist keine Märchenfigur, sondern lebt vom Entwerfen und Nähen von Meerjungfrauenkostümen, wie Vida später erfährt. Marie vermittelt ihr als Außenstehende überraschende Einsichten in lang Vertrautes, etwa wenn sie vor dem Haus stehend feststellt: „Von hier aus kann man das Meer erreichen, in weniger als dreißig Minuten, egal, in welche Richtung man geht: Das ist wie der Mittelpunkt der Erde. Der Mittelpunkt der Welt.“
Für Vida wird Marie schließlich zum Mittelpunkt ihrer Welt, Gewissheiten und Geschlechterrollen zerfließen. Sie tritt aus dem Schatten ihres bisherigen Lebens hinaus – und im übertragenen Sinn gilt das auch für die Münchner Autorin selbst. Nach mehreren unter Pseudonymen erschienenen Bestsellerromanen ist „Was das Meer verspricht“ ihr erster unter Klarnamen veröffentlichter Roman, für den sie 2022 das Arbeitsstipendium für Literatur der Stadt München erhielt.
„Ich bin von Beruf Zeithistoriker geworden. Wenn jemand wissen wollte, was ich mache, erklärte ich, dass ich die Epoche der Mitlebenden beschreibe. Ich war einer der Bearbeiter der Akten des Auswärtigen Amtes. Jetzt war das Jahr 1991 an der Reihe. Es hatte wie kein anderes den Lauf meines Lebens verändert. Ich wäre gern wegen Befangenheit ausgeschlossen worden. Bis ich Enni traf.“ So erklärt der zwischen Süddeutschland und Berlin, zwischen einer bürgerlichen Existenz mit Frau und Kindern und vielleicht einem neuen Lebensentwurf pendelnde Ich-Erzähler Jan seine Profession in Michaela Maria Müllers Roman „Zonen der Zeit“ (Quintus Verlag).
In kurz getakteten Kapiteln lässt die in Dachau geborene Autorin Jan und Enni in jeweils wechselnder Ich-Perspektive von ihrem Leben und ihrer Begegnung berichten – hier der eher zögerliche Archivar, der 1991 zehn Jahre alt war, als seine Mutter mit ihm Berlin verließ, dort die pragmatische Feuerwehrfrau, die im selben Jahr geboren wurde. „Ich arbeite mit Menschen, war aber nur noch selten neugierig auf sie. Eine Form von Burnout, den hatte ich bei mir selber diagnostiziert. Bei Jan war das anders. Als ich ihn vor der Tankstelle mit dem Eis stehen sah, wollte ich sofort alles wissen über ihn“, reflektiert sie beider Aufeinandertreffen. Aus ihrer privaten und gesellschaftlichen Historie heraus gilt es für sie, einen Weg zueinanderzufinden, möglich vielleicht auf der „Insel der angehaltenen Zeit“ inmitten der Spree, wie es Jan gegen Ende formuliert. Das Wasser, es ist auch hier gegenwärtig, und die Existenzen, sie sind fließend.