Süddeutsche Zeitung

Verschwundene Orte:Die Alabamahalle, sie hatte Kultstatus

In den Achtzigerjahren war sie ein Wallfahrtsort für das junge Publikum, nicht nur wegen der legendären Fernsehsendung. Heute tüfteln dort BMW-Mitarbeiter.

Von Karl Forster

Es sollte ein großer Abend werden für die angehende Popgröße Sandra. Mit ihrem Lied "Maria Magdalena" hat sie sich Mitte der Achtzigerjahre an die Spitze der deutschen Charts gesungen, ein idealer musikalischer Gast also für die BR-Sendung "Live aus dem Alabama". Zu der gehört auch ein Interview mit dem Abendkünstler, geführt vom amtierenden Moderator. Und so stellte Giovanni di Lorenzo die Frage mit der für ihn typischen leisen Stimme; so, wie man vielleicht nach dem Sonnenbrand fragt, der einem das Gesicht gerötet hat. Wie man sich denn fühle, fragte also di Lorenzo die Schlagersängerin Sandra, als "Onaniervorlage für sechzehnjährige Jungs". Sandra sah plötzlich aus, als hätte sie einen Sonnenbrand im Gesicht. Ihre Antwort ging im Schockschweigen des Publikums in der Münchner Alabamahalle unter. Das Gespräch floß irgendwie weiter ins Unerhebliche.

Diese kleine Szene aber wurde zum Puzzleteilchen jenes Bildes, das die älteren Münchner, also die damals Jungen, von dieser legendären Halle an der äußeren Schleißheimer Straße haben und sich bewahren; als Erinnerung an eine Zeit, in der die Stadt von anderen Städten wegen dieser Halle beneidet wurde; in der der Bayerische Rundfunk begann, sich langsam vom herrschenden Machtgefüge der CSU zu befreien (was dann doch noch länger dauern sollte); und in der junge Medienmenschen wie Amelie Fried, Werner Schmidbauer, Sandra Maischberger und eben auch Giovanni di Lorenzo als Präsentatoren zeitgenössischer Kulturereignisse Kontur gewannen.

Was ihnen mit einer gewissen Nachhaltigkeit auch gelang: Amelie Fried schreibt nach Jahrzehnten erfolgreicher TV-Präsenz ebenso erfolgreich Bücher fürs Leben, Werner Schmidbauer füllt mit den Musikerkollegen Pippo Pollina und Martin Kälberer die Arena von Verona, Sandra Maischberger ist längst eine Ikone der Talk-Kultur und Giovanni di Lorenzo schon ziemlich lange Chefredakteur der Zeit. War damals der "Moon of Alabama" quasi der Komet einer neuen Hallen- und Fernsehkultur?

Nein, denn es waren nicht die Worte des "Mahagonny"-Dichters Bert Brecht, die der Halle den Namen gaben, sondern die Amerikaner. Aber seit dieser Zeit in den Achtzigerjahren weckt das Schlagwort Alabamahalle Erinnerungen an großartige Bühnengeschehnisse. Zum Beispiel an die Wiederauferstehung einer der wichtigsten Rockkünstlerinnen der Geschichte - vor kaum hundert Fans; an das letzte Deutschlandkonzert eines der prägnantesten Bluesgitarristen, der kurz darauf in Amerika mit dem Hubschrauber in den Tod stürzte. An die faszinierenden Bewegungen eines die ganze Tanzwelt in Atem haltenden, sehr alten Balletterneuerers. Und nicht zuletzt an eine Sendereihe des Bayerischen Fernsehens, die so gar nicht zu diesem "Schwarzsender" passen wollte. Die Alabamahalle, sie hatte Kultstatus.

Solchen Status aber hatte das Gelände schon 1906 erreicht, als man dort ein Radstadion fürs ganze Münchner Volk baute, zugleich eine Motorrad-Rennstrecke, weltweit eine der damals größten ihrer Art. Nach dem Ersten Weltkrieg diente das Areal mit der dreischiffigen Halle als Militärlager, der Pulverturm unmittelbar nordwestlich wurde sehr viel später zum Tanz- und Abhängtreff schwarz gekleideter Freunde der Ramones und ähnlicher Bands.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die Amerikaner das Gelände als Lager, unter anderem für Socken und Unterwäsche. Die Bauwerke benannten sie nach heimischen Bundesstaaten, so bekam auch die Alabamahalle ihren Namen. Nichts also mit Brechts "Moon of Alabama".

Die Brache lag unweit des BMW-Werks. Der Konzern erwarb aus naheliegenden Gründen 1978 eine Kaufoption. Wenn man heute da vorbeifährt, wo bis Anfang des aktuellen Jahrtausends die langsam verfallende Alabamahalle stand, weiß man, warum: In blendendem Weiß gehaltene Gebäude zeugen vom Expansions- und Forschungsdrang des Autobauers.

Doch war damals BMW ja auch schon ein großer Förderer der Kultur (ist er heute noch, man denke nur an die Jazzveranstaltungen unter seinem Dach) und als solcher über seinen Verein "Spielmotor" Möglichmacher des in den Siebzigerjahren renommierten Münchner Theaterfestivals. Trotz der Erfolge in den Feuilletons aber geriet dieses Zeltspektakel - auch wetterbedingt - in finanzielle Schieflage und soff ab. Es galt, dieses kulturelle Loch zu füllen. Am besten wettersicher mit einer Halle. BMW hatte eine. Den Begriff "Win-win-Situation" gab's damals zwar noch nicht. Aber die Alabamahalle hatte nun ihre Bestimmung gefunden.

Zum Betreiberduo erkor man die tanzaffine Kulturfachfrau Cornelia Weiblein und den "liebenswerten Dickschädel" (Der Spiegel) Wilfried Albrecht, hauptberuflich Wirt der Studentenkneipe Atzinger. Das waren zwei in ihrer Unterschiedlichkeit sich bestens ergänzende Persönlichkeiten, welche die Arbeit in der Alabamahalle später gar vor den Traualter bringen sollte. Sie hatten ein Jahresbudget von 800 000 Mark zur Verfügung, um Ticket- und Getränkepreise fürs junge Publikum im Rahmen zu halten und trotzdem ein anspruchsvolles Programm auf die Bühne zu bringen. Alabama, im unwirtlichen Norden der Stadt gelegen, wurde zum Wallfahrtsort mit Kultur jenseits der Frackgrenze.

Es leuchteten wahre Highlights auf dieser Bühne. Die New Yorker Theaterschocktruppe Spider Woman zeigte manchem Macho, warum man gerne auf Männer verzichten kann. Philip Glass brachte mit seiner Minimal Music die Ernsthaftigkeit klingender Stille in den Raum (da stoppte sogar der Bierausschank), Steve Ray Vaughan sang in dem Blues-Song "Little Wing" von der Geliebten, die zu ihm sagt: "Take anything you want from me". Wenige Wochen später stieg er nach einem Konzert in Wisconsin in einen Hubschrauber. Der stürzte nach dem Start im Nebel ab.

In der Alabamahalle gastierten weiter: die Royal Shakespeare Company, Maurizio Kagel, das heute noch berühmte Warschauer Teatr Wielki und die Merce Cunningham Dance Company - ein unvergesslicher Augenblick. Zum Schluss der Aufführung, zu der, Alabama-typisch, auch viele weniger ballettkundige Zuschauer gekommen waren, trat der Meister dann selbst an die Rampe. Und begann, fast achtzig Jahre alt, sich zu bewegen zum schrägen Rhythmus aus dem Off. Da herrschte plötzlich ergriffenes Schweigen, jeder, auch der punkigste Punk im Auditorium ahnte, dass hier ein paar Minuten lang wirklich Großes geschah. Merce Cunningham übrigens überlebte die Alabamahalle um fast zehn Jahre.

Man verlieh dort aber auch den Preis "Die Löwenpfote" für kulturellen Mut. Man ließ in einem der drei Übungsräume eine Journalistenband für ihren Amnesty-International-Benefizabend proben. Und man hielt ganz generell die Fahne hoch gegen die wachsende Feierkultur der Besinnungslosigkeit.

Der vielleicht bedeutsamste Abend in der Geschichte der Halle fand am 10. November 1983 statt. Auf dem Plakat stand nur "Spielmotor e. V. präsentiert: The Tina Turner Show. Eintritt im Vorverkauf: 25 Deutsche Mark." Es kamen vielleicht an die hundert Menschen, obwohl eine Boulevardzeitung 30 Freikarten verlost hatte. Tina Turner? Da war doch was. "Proud Mary", Ike Turner, Schläge, Scheidung, Ende der Karriere. Und dann dies: der Neustart in ein zweites Leben. Von Null auf Hundert. Von der Alabamahalle in die Stadien der Welt. "Simply The Best"! Dieses Album hatte sie damals gerade in Arbeit.

Ja, und dann war da ja eben immer auch der Montag. Um 19 Uhr hieß es im Bayerischen Fernsehen: "Und nun schalten wir um zu Live aus dem Alabama". Es gab kurz Musik. Und dann, eine gute Stunde lang Journalismus, so wie die jungen Moderatoren, gestützt, geleitet und geduldet von der freigeistigen Mannschaft der BR-Familienredaktion unter dem späteren Intendanten Thomas Gruber, eben Journalismus verstanden. Man sprach über Aids (Grimmepreis), stritt mit der neonazistischen Wikingjugend (bei deren Einlassung platzte sogar dem Kameramann Dieter Fichtner der Kragen, und er fuhr mit einem eindeutigen Kommentar ins Gespräch). Und weil dann bei einer Sendung über Gewalt ein mit Pudelmütze Vermummter in der Runde saß, sah sich ein führender CSU-Politiker zu dem Satz genötigt: "Lasst uns den Saustall zumachen!" Der Saustall kam dann zu der durchaus respektablen Ehre, von SZ-Redakteur Herbert Riehl-Heyse auf der Seite Drei gewürdigt zu werden mit einem spitzfedrigen Aufsatz und dem Übertitel: "Gefährdet eine Pudelmütze den Staat?"

Nun, die Alabama-Herrlichkeit fand ein für solch kulturelle TV-Ereignisse nicht untypisches Ende: Sie versandete. Je mehr der BR versuchte, das Profil der Sendung zu professionalisieren, unter anderem mit dem damals schon recht renommierten Günther Jauch, desto weniger junge Zuschauer lockte der Montag vor den Bildschirm. Und weil BMW langsam deuchte, man könne das Gelände mit der Halle auch gewinnbringender nutzen als als gesponsortes Kulturvenue, hieß die Sendung bald "Live aus dem Schlachthof", war nicht mehr so lustig kontrovers und verschied spätestens nach der Umtopfung der Alabama-Idee in eine Halle an der Domagkstraße. Dort gab's, statt aufmüpfigem Journalismus, Flatrate-Saufen als Innovation.

Im April 1988 wurde die alte Halle geschleift. Alabama ist nicht mehr.

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Quelle:
SZ vom 08.06.2019/baso
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