Aktuelle Kritik:Schunkeln gegen Wohnungsnot

Oktoberfest 2018

Ein überzeugender OB und ein eher blasser Ministerpräsident bei der Eröffnungspremiere der diesjährigen Langzeitperformance.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

Die Langzeitperformance "Die Wiesn" erlebt eine durchschlagende Premiere

Von Christiane Lutz

Erwartungsgemäß mitreißend war die Eröffnungspremiere "Das Oktoberfest - Der Anstich", die traditionell am Beginn der zweiwöchigen Langzeitperformance "Die Wiesn" auf der Theresienwiese steht und im Schottenhamel von Michael Schottenhamel inszeniert wird. Die Rolle des Oberbürgermeisters spielt in diesem Jahr Oberbürgermeister Dieter Reiter. Er lieferte eine überzeugende Darbietung. Es tut ihm sichtbar gut, dass er die Rolle bereits zum wiederholten Male spielt. Die nicht unheikle Anstich-Szene, die in ihrer theaterwissenschaftlichen Bedeutung durchaus mit dem "Sein oder nicht sein"-Monolog aus Hamlet zu vergleichen ist, gelingt ihm emotional eindrücklich und kraftvoll. Ausgebuht wurde hingegen Ministerpräsident Söder. Sein Ministerpräsident blieb eher hölzern und seltsam unempathisch. Söders Versuche, spielerische Spontanität zu beweisen, indem er auf sein großes Rollenrepertoire (zum Beispiel als Finanzminister) hinwies, goutierte das Publikum nicht. Fraglich, ob er nächstes Jahr noch einmal besetzt wird.

Zu bemäkeln ist, dass Frauen bei der Inszenierung wieder einmal nur Beiwerk waren. Zwar ist die Rolle des Münchner Kindl - bekanntlich ein Mönch und somit ein Mann - lang schon nicht mehr den Männern vorbehalten. Seit 2016 spielt Viktoria Ostler die Rolle, jedoch begnügte sich Regisseur Schottenhamel damit, sie untätig auf das anzustechende Bierfass zu setzen.

Wer die Inszenierungsgeschichte von "Das Oktoberfest" verfolgt, weiß, dass dem Publikum seit jeher eine entscheidende Rolle zukommt. Hochkarätige Prominenz hatte sich deshalb Premierentickets gesichert. Im Zelt waren beispielsweise Gerhard Schröder (hat mal die Rolle des Bundeskanzlers gespielt) und Florian Silbereisen anwesend, der dem Publikum durch seine subversiven Schlager-Happenings bekannt sein dürfte. Beide wissen, dass "Die Wiesn" ihre betörende Wirkung erst im Austausch mit anderen Zuschauern entfaltet, was Teil des Inszenierungskonzepts ist. Denn das Stück lebt auch vom Prinzip der unfreiwilligen Nähe und spontanem Zwangsschunkeln, was als aktuelle Analogie auf die immer dichter bevölkerten Städte und den Wohnraummangel in München gedeutet werden kann.

Nach der Anstich-Szene franst die Inszenierung dann allerdings leider etwas aus. Der Ton ist schlecht. Zuschauer beginnen zu essen. Hier hätte der strenge Eingriff eines Dramaturgen Not getan. Erfreulich ist dann wieder der Einsatz des Orchesters. Dieses beherrscht nicht nur das angenehm volksnahe "Ein Prosit", sondern auch ein ansprechendes Medley aus Opern-Hits wie Offenbachs "Can Can""und der Ouvertüre aus "Carmen". Die Musiker tragen nicht unwesentlich dazu bei, dass die Arbeit dann doch ohne weiteres Holpern in die traditionelle Langzeitperformance übergleitet. In den 16 Zelten fügen die Regisseure zwei Wochen lang die immer gleichen Elemente zu einer Collage zusammen: eilende Bedienungen, klirrende Maßkrüge, der Duft von Hendl und Bratensoße, präsentiert vor einem Klangteppich eingängiger, voralpenländischer Musik. All das soll den Zuschauer das Gefühl für Zeit und Raum, oben und unten, Kotzen oder Knutschen so lang kritisch befragen lassen, bis er sich der unwiderstehlichen Gesamtästhetik dieses theatralen Massenereignisses hingibt.

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