Aktion "X-Tausend":Wo das Löwenherz schmerzt

Die Anhänger des TSV 1860 München nutzen eine Partie ihrer zweiten Mannschaft zu einem Protest gegen den Abriss des Grünwalder Stadions. Mehrere tausend Zuschauer feiern - ein paar prügeln sich mit der Polizei.

Thomas Hummel

Noch lange nach Ende des Spiels drang als Gebrüll getarntes Liedgut aus der Stadionwirtschaft. Durch die milchigen Fensterscheiben sah man riesige Körper sich zärtlich umarmen, dazu einen hektisch hantierenden Bierausschenker. Die Fans des TSV 1860 München feierten wie schon lange nicht mehr. Dabei feierten sie keinen Sieg ihrer Mannschaft, keine Meisterschaft und auch keine Niederlage des FC Bayern. Sie feierten sich selbst.

Aktion "X-Tausend": Das "Sechzger-Stadion": Das Herz der 1860-Anhänger hängt an diesem alten Gemäuer. Doch es droht der Abriss.

Das "Sechzger-Stadion": Das Herz der 1860-Anhänger hängt an diesem alten Gemäuer. Doch es droht der Abriss.

(Foto: Foto: dpa)

Im Internet hatten Fans dazu aufgerufen, die Heimpartie der zweiten Mannschaft des Vereins gegen den SV Wehen am Freitagabend dazu zu nutzen, gegen den drohenden Abriss des alten Grünwalder Stadions zu demonstrieren. Des "Sechzger-Stadions", wie es im Volksmund heißt. Sie nannten die Aktion "X-Tausend". Auch das neue Präsidium des Klubs hatte dazu aufgerufen, sich per Anwesenheit für die Sache einzusetzen. Und während sich normalerweise zu einem solchen Spiel der dritten Liga höchstens 300 Besucher verlaufen, bildeten sich am Freitag lange Schlangen vor den Kassenhäuschen. Am Ende beteiligten sich offiziell 7004 Menschen an der inoffiziellen Demo.

Stunden vorher waren deshalb in Trikots, Kutten und Schals gekleidete Menschen durch den Stadtteil Giesing gegangen, mit einem Glänzen in den Augen wie Kinder in Erwartung des Christkindes. Die "eingefleischten" Sechzig-Fans, also diejenigen, die seit einigen Jahren das leidvolle Schicksal dieses Vereins leidvoll mitleben, bot sich die seltene Gelegenheit, die Vergangenheit noch einmal zu erleben.

Gegen Business-Seats und Privat-Logen

Seitdem sich der einst so proletarische Fußball-Sport zum Event für alle entwickelt hat, sieht sich der traditionelle Stehtribünen-Fan an den Rand gedrängt. Die neuen Arenen sind darauf ausgerichtet, den Sponsoren genügend Platz zu geben, den wichtigen Leuten schöne Business-Seats und Privat-Logen zu bieten. Sogar die Fans des Nobel-Klubs FC Bayern sangen zuletzt in Richtung Haupttribüne: "Fressen und Saufen. Ihr könnt nur Fressen und Saufen."

Für viele Anhänger des "Arbeiterklubs" TSV 1860 ist das ebenso schwer zu ertragen, sie weigern sich deshalb, in die neue Arena am Stadtrand zu gehen, wo die Profi-Mannschaft des Vereins nun spielt. Und sie fordern immer vehementer die Rückkehr in das Stadion an der Grünwalder Straße. Selbst wenn dort das Gras auf den Tribünen wächst. Es bahnt sich dabei ein Konflikt mit der Stadtpolitik an. Viele im Rathaus befürworten den Abriss des Stadions, sollte ein Investor für diese exklusive Lage auf Giesings Höhen gefunden werden.

Für die Menschen in und um den TSV 1860 ist dies eine Horrorvorstellung. Stadionsprecher Stefan Schneider rief pathetisch ins Mikro: "Wir werden uns an diesen 18. Mai später erinnern, als den Tag, an dem wir das Grünwalder Stadion gerettet haben." Die Anhänger griffen tief in die Nostalgie-Schublade und behängten das Rund mit Spruchbändern fast poetischen Inhalts. "Heimat ist, wo das Herz weh tut" - "Liebe Leben Leidenschaft" - "1860 Stehhalle - seit 1925" - "Alle Wege führen nach Giesing". Für die Anhänger ist das Stadion ein Sinnbild der alten Zeiten, als der Fußball noch ihnen gehörte. Als sie sich noch als Fans fühlten und nicht als Kunden.

Platz für Anarchie

Hier sitzt der Vip auf einer harten Holzbank, seine Sicht auf das Spielfeld wird durch einige Stützpfeiler des Haupttribünen-Dachs behindert. Fast drei Viertel der Besucher müssen stehen, die meisten davon ohne Dach über dem Kopf. Hier ist der Ort, an dem man den Schiedsrichter politisch völlig unkorrekte Dinge nachschreit, ohne dass Kameras jeden einzelnen Pöbler aufnehmen. Hier fühlen sich viele befreit von der Staatsmacht. Hier ist Platz für Anarchie.

Und so sangen und brüllten und grölten die Fans mehrere Stunden ihre Lieder, ungetrübt von Düsenjet-lauten Werbesprüchen über die Mikrofone, wie sie in den Arenen üblich sind. Die Menschen freuten sich, weil 1860 II aus einem 0:2 mit großem Einsatz noch ein 2:2 machte. Und einige stiegen dann auf den Zaun, der die Tribüne vom Spielfeld trennt. Und weil Ordner das verhindern wollten, kam es - wie in alten Zeiten - zu Tumulten zwischen den "Fans" und der Ordnungsmacht. Die Schlägerei, bei der ein Polizist verletzt worden ist, war der hässliche Teil des schönen Fan-Fests. Auch wenn ihn die Offiziellen des Vereins einfach wegschweigen wollten.

Präsident Albrecht von Linde sagte nach dem Spiel im engen Presseraum, er könne sich gut vorstellen, künftig auch die erste Mannschaft hin und wieder hier spielen zu lassen. Nicht regelmäßig, weil der Klub für viele Jahre an die Allianz Arena gebunden und dafür viel Geld bezahlen muss. Aber: "Unser Herz schlägt in Giesing." Zumindest für diesen Tag stimmte das wieder.

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