Süddeutsche Zeitung

Akrobatik:Artistik am Laufkran

Ella Hummel ist Luftakrobatin. Weil derzeit alle Turnhallen wegen Corona geschlossen sind, trainiert sie in der Lagerhalle eines Messebauers

Von Lena Bammert

Ella Hummel, 20, hängt an einem Kran, ihrem Home-Office, sozusagen. Hummel ist Luftakrobatin, sie trainiert mit einem Vertikalseil, manchmal auch mit einem Vertikaltuch. Daran hat auch Corona nichts geändert. An der Umgebung allerdings schon. Die Sporthallen, in denen Ella Hummel normalerweise trainieren würde, sind alle geschlossen. "Die Polizisten finden es auch nicht cool, wenn man das Seil direkt an der Brücke aufhängt", sagt sie und lacht. Deshalb also trainiert sie in einer Lagerhalle in Ismaning, bereitgestellt von Hans-Peter Bergmann, dem Freund ihrer Mutter. Die Lagerhalle gehört zu einer Münchner Firma für Messebau und Webdesign.

Perser-Teppiche und Plakate liegen hier neben Messeboden-Stücken aus Filz. Weil das Messelager aber nicht beheizt ist und sie ihren Muskeln nicht schaden wolle, gehe das nur bei mildem Wetter, sagt Hummel. Gerade kommt sie etwa dreimal die Woche in die Halle. "Für mich ist es super, dass ich überhaupt einen Ort habe zum Trainieren. Ich habe das so vermisst, mich gescheit zu bewegen", sagt sie. Normalerweise trainiert sie an der Artistik-Uni in Tilburg in den Niederlanden, aber wegen der Corona-Krise ist sie jetzt im Home-Office.

Zwischen Regalen mit großen Holzkisten, Plakaten und Leitern liegen zwei aufeinandergestapelte Matratzen. Sollte Ella Hummel bei ihren Luftnummern abstürzen, schützen sie die Matratzen vor Verletzungen. An der Hallendecke befindet sich ein Laufkran, an einem der zwei Seilzüge befestigt die Luftakrobatin ihr Tuch, dann trainiert und schwebt sie los - inmitten von Werkstattrollbrettern und Plastikpaletten. Die Industrie-Kulisse stört sie dabei nicht: "Das ist mir relativ wurscht, einfach, weil ich schon überall trainiert habe", sagt sie. Die vielen Trainingsstunden sieht man Ella Hummel an, ihr Körper wirkt nicht besonders groß, aber stark, durchtrainiert und flexibel. Die braunen Haare hat sie meistens zu einem Dutt gebunden.

Luftartisten brauchen Höhen und Matten. Trainingsorte in München zu finden, ist daher immer wieder ein kleines Abenteuer. Die Übungsstunden in der Halle des Munich Center of Community Arts im Kreativquartier sind Ella Hummel dabei besonders in Erinnerung geblieben: "Da standen dann teilweise Wohnwägen herum, manchmal war ein ganzes Orchester drin."

Während ihrer Schulzeit im Max-Josef-Stift in München ist sie mit dem Schulzirkus Majostics sogar in einer Kirche aufgetreten, der St.-Maximilians-Kirche in der Isarvorstadt. Die Zuschauer saßen auf den Kirchenbänken, die Kirchensäulen wurden von einer riesigen Discokugel mit Lichterpunkten angestrahlt, und vorne am Altar standen Stahlträger, an denen die Tücher für die Luftartisten hingen.

Der Schulzirkus war für Ella Hummel ein besonderer Ort, der sie durch alle Höhen und Tiefen gebracht hat, wie sie sagt. Und in den Höhen ist sie seitdem auch geblieben. Nach der Schule wollte sie mit der Luftakrobatik unbedingt weitermachen, die Aufnahmeprüfung an der Academy of Circus and Performance Art in den Niederlanden bestand sie bei ihrem ersten Versuch.

Dort studiert sie seit September ihre Spezialdisziplin Vertikalseil, jeden Tag hat sie zwei Stunden Training: "Wenn du nicht pünktlich bist, darfst du nicht mehr mitmachen", sagt sie und lacht. Momentan gibt es wie in allen Universitäten nur theoretischen Online-Unterricht. Die Fächer heißen in Hummels Studium Anatomie, Dramaturgie und Zirkusgeschichte.

Die Choreografie, die sie für die Aufnahmeprüfung entworfen hat, ist auf Youtube zu sehen. Sie hat sie vergangenes Jahr auf dem Free-Man-Festival des Wannda Circus performt. Ella Hummel und ihr Seil werden in dem Video von gelbem Scheinwerferlicht beleuchtet, über ihnen ist das Dach des Zirkuszelts zu sehen, mit Sternen bemalt. Im Hintergrund läuft "Leftovers", ein sehr sanfter und atmosphärischer Song des israelischen Musikers Dennis Lloyd.

Betrachtet man die Show, sieht es so aus, als wäre das Seil Ella Hummels Zuhause, als würde sie darin leben, liegen, tanzen, schlafen und spazieren gehen. All diese Bewegungen führt sie am Seil hängend aus, kopfüber, waagerecht, immer mit Bedacht - ihre Arme und Beine immer eng verbunden mit dem Seil. Mehrere Meter schwebt sie über dem Boden.

Man spürt nicht, dass Ella Hummel eigentlich Höhenangst hat: "Viele Luftartisten haben Höhenangst", sagt sie. "Aber am Seil passt dann irgendwie alles, ich kann mich ja festhalten."

Mit 18 Jahren hat Ella Hummel das erste Mal bei einem Seil-Workshop mitgemacht. "Das war ganz furchtbar, weil ich nichts konnte", erzählt sie. Vier Monate und einige Übungsstunden später hat sie dann doch die Aufgabe geschafft. "Herausforderungen zu schaffen, den doofen Trick dann doch endlich hinzubekommen, das ist einfach ein super Gefühl", sagt sie.

Mittlerweile ist sie Teil von Pepe Arts, einer Zirkus-Kompanie unter der Leitung von Michael Heiduk. Auf die gemeinsamen Auftritte bei Open Stages, auf dem Tollwood Festival und dem Wannda Circus ist Ella Hummel stolz. "Dass ich da jetzt schon ein Teil davon sein darf, obwohl ich noch in der Ausbildung bin, das ist toll und macht super viel Spaß", sagt sie.

Aber auch in der Zirkus-Szene hat die Corona-Krise Spuren hinterlassen. Geplante Zirkusfestivals können nicht mehr stattfinden, der Cirque du Soleil musste sogar einen großen Teil seiner Künstler entlassen. Ella Hummel spricht über die aktuelle Krise sanft, aber mit Leidenschaft in der Stimme: "Ich höre gerne Leuten zu, wenn sie über ihre Sorgen sprechen." Und dann betreffe es plötzlich die eigenen Kollegen. "Da fragt man sich: Warum genau will ich das noch einmal machen? Aber Artistin ist für mich einer der tollsten Berufe der Welt. Ich mache das nicht wegen des Geldes, sondern für die Kunst, für mein Leben."

Also macht sie weiter, in der Lagerhalle in Ismaning. Wenn es nach Ella Hummel gehen würde, hängen sie und ihr Seil aber bald nicht mehr an einem Kran unter einem Hallendach, sondern an einer Feuerwehr Drehleiter unter freiem Himmel. Zusammen mit Michael Heiduk von Pepe Arts plant sie eine Art Fenster-Theater, eine Show für die Senioren des Münchenstifts, die dann von ihren Balkonen die Artisten in der Luft sehen können. "Wir wollen den Senioren eine schöne Erinnerung geben. Etwas, worauf sie sich freuen können, weil sie gerade so alleine sind und ihre Familien nicht sehen können." Das Projekt soll Mitte Mai stattfinden, wenn alles klappt, denn viel Geld ist dafür nicht vorhanden. Hummel sucht noch nach Geldgebern. Damit der Mindestabstand eingehalten werden kann, sollen nur vier Zirkusartisten auftreten. Luftakrobatik bietet sich dafür besonders an - "die sieht man dann auch besser als zum Beispiel Jongleure", sagt Hummel und lacht.

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Quelle:
SZ vom 29.04.2020
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