Air & Style:Feuerwerk aus Einfällen und Risiko

"Die Technik prescht vor, der Style prescht nach": Beim Air&Style-Sieg von Travis Rice in München erfindet sich die Snowboard-Elite neu und überfordert sogar Olympiasieger Shaun White.

Thomas Hahn

Travis Rice aus Jackson Hole in den USA war der Mann, nach dem sie die ganze Zeit gesucht hatten. Er war der Tagessieger beim Snowboard-Festival Air&Style im Münchner Olympiastadion, der neue Träger des Ring of Glory, hervorgegangen aus einem Turnier mit 16 erlesenen Sprungakrobaten vor 27.500 Zuschauern.

Travis Rice fühlte sich sehr geehrt, es war einer seiner größten Siege, Air&Style ist schließlich nicht irgendein Sprungwettbewerb in der Welt des Actionsports, sondern ein Kultereignis, das vor zwölf Jahren aus der Szene selbst entstand. "Das ist ungefähr so wie ein Grand Slam im Tennis", sagte Travis Rice, und doch wollte er nicht so tun, als wäre er wirklich der Beste gewesen.

Er war eben der, der den besten letzten Sprung im Finale gestanden hatte. Mehr nicht, sondern nur ein Hauptdarsteller neben anderen, ein Bauer im Weinberg seines Sports sozusagen. Er dachte kurz an das, was gewesen war, an die vielen Tricks, die bei einem solchen Contest noch nie jemand gezeigt hatte, an dieses Feuerwerk aus Einfällen und Risiko, und er sagte: "Das macht wirklich demütig."

Die Snowboarder haben sich vor bald zwei Jahrzehnten eine eigene Kultur geschaffen, eine eigene Mode, eine eigene Musik, eine eigene Haltung zu dem, was sie unter Sport verstehen, und so definieren sie auch für sich selbst, was denkwürdig ist.

Ihr Air&Style war diesmal ein Fest, das einen weiteren Fortschritt in ihrer Welt bedeutete, und wenn die Leute von außen das nicht verstehen wollten, war ihnen das egal. Die Kenner waren sich einig: Die Springer hatten an diesem lauten Wintersport-Abend Maßstäbe für die Zukunft gesetzt.

Der Münchner David Benedek, Air&Style-Gewinner 2002, diesmal Vierter und euphorisch gefeiert, sagte bei aller Bescheidenheit: "Im Vergleich zum allgemeinen Niveau im professionellen Snowboard-Sport kann man schon sagen, dass das der Contest mit dem höchsten Niveau aller Zeiten war."

Travis Rice ist wirklich nicht der einzige Gewinner gewesen mit seinem doppelten Rückwärtssalto mit halber Drehung (double backflip to 180) im Finale. David Benedek zum Beispiel war auch einer.

Eigentlich hatte er sogar schon nach seinem ersten Versuch im Erstrundenduell mit dem Schweizer Nicolas Müller gewonnen: Er hatte seinen Double corked 1260, einen Überkopfsprung mit dreieinhalb Drehungen, vorher erst zwei Mal gestanden; unter anderem wenige Stunden zuvor im Training, als er feststellte, dass der Kunstschnee-Hang weich genug war, um diese Höchstschwierigkeit aufrecht ins Ziel zu bringen.

Also wiederholte er das Kunstwerk, das an dieser Stelle eine Weltneuheit war, entfachte damit einen Jubel, wie er sonst nur im Fußballstadien bei wichtigen Toren zu hören ist, bekam mit 285 von 300 Punkten die höchste Wertung des Tages und setzte damit ein Zeichen für die Kollegen.

Oder Antti Autti, der Olympia-Fünfte aus Finnland, der im Halbfinale den amerikanischen Halfpipe-Olympiasieger Shaun White an die Grenzen seiner Schaffenskraft brachte.

Auch Autti zeigte einen 1260 - Shaun White sah es, wagte seinerseits die dreieinhalb Drehungen, die er vorher noch nie gemacht hatte, und blieb um eine Winzigkeit von fünf Punkten zurück. Shaun White ist es nicht gewohnt zu verlieren, im vergangenen Winter hat er gar nicht verloren, aber er konnte sich nicht böse sein.

Er hatte alles versucht, und er war auch ein bisschen an den fast perfekten Bedingungen gescheitert. "Wenn der Sprung hier schlecht gewesen wäre, hätte Shaun White ganz sicher gewonnen, weil er alles fahren kann und alles am allerbesten", sagte David Benedek. "Aber wenn die Bedingungen so gut sind, dass sich alle an ihr Limit herantasten können, dann sind die Unterschiede so marginal, dass auch mal der Antti weiter vorne sein kann."

Aber es blieb auch eine Frage zurück nach dem Spektakel: Entfernt das Snowboarden sich von dem, was man künstlerischen Anspruch nennen könnte, hin zu einer reinen Darbietung sportlicher Techniken? Das, was die Snowboarder Style nennen, das unverwechselbar Schöne eines Sprungs, der Ausdruck, der sich nicht unbedingt in der Zahl der Drehungen widerspiegelt, war der Freestyle-Szene immer wichtiger als das Bemühen um immer spektakulärere Tricks.

In München nun wirkte ein bekennender Stylist wie Nicolas Müller chancenlos und der Wettbewerb insgesamt wie die atemberaubende Jagd nach dem besten Stunt. Aber natürlich hat niemand das Ende des Styles ausrufen wollen.

Dieser Abend sollte eher als ein Zeichen des Aufbruchs stehen bleiben. Als eine Darbietung von neuen Techniken, denen die Artisten bald ihre künstlerische Note hinzufügen werden. "Die Technik prescht vor, der Style prescht nach", sagte David Benedek, und damit wollte er wohl auch sagen, dass unter Snowboardern bald normal sein dürfte, was vor Kurzem noch undenkbar erschien.

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