"Ich habe eine dicke Haut", sagt Fatima Navai. Trotzdem sei es wahnsinnig schwer gewesen, durchzuhalten. "Da gibt es Momente, wenn die ganze Klasse lacht, und man weiß nicht, worüber." Da soll man Fragen zu Bismarcks Sozialgesetzgebung beantworten und hat noch nie im Leben solche Begriffe überhaupt gehört. Man darf im Englischunterricht kein einsprachiges Wörterbuch benutzen, das Wortbedeutungen erklärt, sondern nur ein englisch-deutsches. "Man fühlt sich oft, als müsse man einen Marathon im Rollstuhl bewältigen", sagt die Abiturientin.
Fast alle ihre ausländischen Mitschüler seien an der Sprache gescheitert. Das sei frustrierend, demütigend. "Und man traut sich anfangs überhaupt nicht, den Mund aufzumachen." Ermutigung, das ist es, was in unserem Bildungssystem fehlt, sagt auch Böhm. Ohne ihn hätte sie es kaum geschafft, sagt Navai, "aber nicht jeder hat einen solchen Rückhalt". Auch ihre Mutter sei eine große Stütze gewesen. "Wir haben zu Hause immer nur über Schule geredet."
Jetzt will sie Mathematik oder Medizin studieren
Die drei Schwestern haben es jedenfalls geschafft. Die ältere studiert inzwischen Ingenieurwissenschaften, die jüngere macht bald ihr Fachabitur. Und während viele deutsche Abiturienten erst einmal chillen oder um die Welt reisen, kann Fatima Navai noch gar nicht richtig fassen, dass sie jetzt ein paar Wochen Zeit hat, nur für sich. Schwimmen im Schliersee, das bedeutet Glück für sie. Sich mit Freundinnen treffen. Vielleicht mal ins Kino gehen. Für all das war in den drei Jahren keine Zeit.
Nebenher muss sie sich aber einen Ferienjob suchen, denn sie bekommt jetzt erst einmal kein Bafög mehr. Mit ihren vielen Talenten ist sie für jeden Arbeitgeber vermutlich eine Bereicherung. Und dann muss die Familie auch noch eine Wohnung im Großraum München finden, denn das Haus, in dem sie bisher wohnen, muss dringend saniert werden. "Es ist nicht leicht, aber wir werden es schon schaffen", sagt Navai und lächelt wieder.
Dann geht sie noch kurz rüber in die Uni, weil der Fotograf vorgeschlagen hat, sie dort zu porträtieren. "Muss das sein? Ich bin eigentlich gar kein Fotomensch", sagt sie, während sie durch den Haupteingang in den Lichthof geht. Sie setzt sich auf die Brüstung neben der Haupttreppe, wirft ihre braunen Haare wieder über die Schulter und blickt dann selbstbewusst in die Kamera.
Sie hat sich an der Uni schon beworben, für Mathematik und für Medizin, beides interessiert sie sehr. Mit ihrem Einser-Abi hat sie gute Chancen. München sei jetzt ihre Heimat, sagt sie. Und sie wird dieser Heimat eines Tages mit Sicherheit viel zurückgeben. Wer hätte das gedacht, vor dreieinhalb Jahren, als sie als Flüchtlingsmädchen aus Afghanistan hier ankam.