Integration:"Ich schaffe das"

Fatima Navai hat ihr Abitur bestanden und will nun studieren

Fatima Navai hat sich an der Uni schon beworben, für Mathematik und für Medizin.

(Foto: Stephan Rumpf)

Fatima Navai floh vor vier Jahren aus Afghanistan nach Deutschland. Sie lernte hier die Sprache, machte nach einem Jahr den Quali. Jetzt hat sie ihr Abitur mit der Note 1,2 bestanden.

Von Martina Scherf

Fatima Navai lacht immer wieder zwischendurch, während sie erzählt, wie sie das geschafft hat: Erst die Flucht aus Afghanistan. Dann, im Herbst 2015, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen nach Deutschland zu kommen und dreieinhalb Jahre später ein Abitur mit Bestnote - Durchschnitt 1,2 - hinzulegen. 14 Punkte im Matheabitur, über das sich bayerische Schüler beschwert haben, weil es so textlastig war.

Klingt unmöglich - aber nicht für die junge Frau, die jetzt in einem Café an der Uni sitzt, ihre langen Haare über die Schulter wirft und vor Zuversicht ins Leben strahlt. 23 Jahre ist sie alt, sicherlich sehr begabt, aber zudem mit einem eisernen Willen ausgestattet. "Und ich hatte Menschen um mich herum, die mich unterstützt haben", sagt sie bescheiden. Am Freitag hat sie ihr Zeugnis entgegengenommen.

Natürlich war der Weg dorthin alles andere als einfach. Doch jetzt fällt langsam die Anspannung von ihr ab. Deshalb erzählt die stolze Abiturientin erst einmal in aller Ruhe, wie sie vom ersten Tag an, als sie damals in der Flüchtlingsunterkunft in Eichstätt angekommen war, begonnen hat, Deutsch zu lernen. Da hatte sie zwei Monate Flucht hinter sich, durch die Türkei, mit dem Boot nach Lesbos, man kennt die Geschichten und die Bilder mittlerweile.

Sie hat die Schwimmwesten am Strand liegen sehen, die erschöpften Menschen, die jeden Tag ankamen - aber sie mag nicht länger darüber reden. Es war katastrophal, sagt sie nur, und "jeder, der das überlebt, hat Glück". Ihre Mutter und ihre beiden Schwestern waren damals schon in Deutschland, sie waren vor dem Krieg in ihrem Land geflohen, als der geliebte Vater, er war Mathematiklehrer, gestorben war.

Fatima, die zeitweilig in Iran zur Schule gegangen war, konnte zunächst nicht mit, sie machte sich dann später selbst auf den Weg. Wer im reichen, sicheren Deutschland aufgewachsen ist, kann sich all diese Entbehrungen und Ängste kaum vorstellen. Doch die junge Frau selbst will vor allem eins: nach vorne schauen.

Fünf Monate lang musste sie in Eichstätt bleiben und durfte ihre Mutter und ihre Schwestern nicht besuchen, so will es das Asylgesetz. Sie haben sich trotzdem gesehen, und bald gab es auch eine Nachbarin, die mit Fatima Deutsch lernte. "Ich habe sechs Stunden mit ihr geübt, dann fuhr ich nach Hause und lernte weitere sechs Stunden allein."

"Nathan der Weise" in deutscher Originalfassung kann sie inzwischen auswendig

Als sie dann endlich zu ihrer Familie nach Schliersee ziehen durfte, meldete sie sich sofort an der Münchner Schlau-Schule für den Quali an. Und hatte ein Dreivierteljahr nach ihrer Ankunft den Abschluss in der Tasche - als Jahrgangsbeste. Ein Praktikum im Architekturbüro hat sie nebenher auch noch absolviert.

Noch während sie für den qualifizierenden Hauptschulabschluss lernte, meldete sie sich am München-Kolleg an, um das deutsche Abitur nachzuholen. "Das ist unmöglich", sagten ihr die Lehrer dort. "Ich schaffe das", antwortete Fatima Navai. Sie sei einfach so lange mit ihren Unterlagen ins Sekretariat der Schule marschiert, "bis sie mich endlich genommen haben".

Mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung für besonders talentierte Schüler ausgestattet, begann sie dann, sich den ganzen Stoff anzueignen, den man für die Hochschulreife beherrschen muss. Ein wenig Englisch konnte sie, aber Französisch musste sie neu lernen. Sie musste Goethe und Lessing im Original lesen. ",Nathan der Weise' kann ich inzwischen auswendig", sagt sie, "aber es war nicht leicht." Sie musste Fragen zur Geschichte der Weimarer Republik beantworten. "Eigentlich war es oft ein Albtraum, denn am Anfang habe ich ja kein Wort verstanden."

Gerhard Böhm ist pensionierter Deutschlehrer und gibt ehrenamtlich Nachhilfe. Er hat Fatima Navai die ganzen drei Jahre begleitet, zwei oder drei Nachmittage pro Woche mit ihr gepaukt. Dass Migrantenkinder keine Erleichterungen erhalten, um ihr Sprachdefizit aufzuholen, kann er nicht verstehen. Die Muttersprache oder Fremdsprachen, die Migranten mitbringen, werden nicht anerkannt. Vielmehr wird von ihnen im Deutschunterricht verlangt, dass sie genauso Texte analysieren und schreiben können wie Muttersprachler.

"Warum gilt für diese jungen Talente, die auf dem Weg bis ins Gymnasium ja schon enorme Anstrengungen geleistet haben, wenigstens nicht der gleiche Nachteilsausgleich wie für Legastheniker, also zum Beispiel mehr Zeit fürs Aufsatzschreiben oder eine stärkere Gewichtung der mündlichen Note?", fragt der Deutschlehrer.

Navai sprach Persisch, daneben Arabisch und Englisch, als sie kam, inzwischen kann sie Französisch und nahezu perfekt Deutsch. "Warum werden die Erfahrungen und Fähigkeiten von Migranten nicht als Bereicherung im Unterricht gesehen?", fragt Böhm. "Was bringt es, alle über einen Kamm zu scheren?"

Wie ein Marathon im Rollstuhl

"Ich habe eine dicke Haut", sagt Fatima Navai. Trotzdem sei es wahnsinnig schwer gewesen, durchzuhalten. "Da gibt es Momente, wenn die ganze Klasse lacht, und man weiß nicht, worüber." Da soll man Fragen zu Bismarcks Sozialgesetzgebung beantworten und hat noch nie im Leben solche Begriffe überhaupt gehört. Man darf im Englischunterricht kein einsprachiges Wörterbuch benutzen, das Wortbedeutungen erklärt, sondern nur ein englisch-deutsches. "Man fühlt sich oft, als müsse man einen Marathon im Rollstuhl bewältigen", sagt die Abiturientin.

Fast alle ihre ausländischen Mitschüler seien an der Sprache gescheitert. Das sei frustrierend, demütigend. "Und man traut sich anfangs überhaupt nicht, den Mund aufzumachen." Ermutigung, das ist es, was in unserem Bildungssystem fehlt, sagt auch Böhm. Ohne ihn hätte sie es kaum geschafft, sagt Navai, "aber nicht jeder hat einen solchen Rückhalt". Auch ihre Mutter sei eine große Stütze gewesen. "Wir haben zu Hause immer nur über Schule geredet."

Jetzt will sie Mathematik oder Medizin studieren

Die drei Schwestern haben es jedenfalls geschafft. Die ältere studiert inzwischen Ingenieurwissenschaften, die jüngere macht bald ihr Fachabitur. Und während viele deutsche Abiturienten erst einmal chillen oder um die Welt reisen, kann Fatima Navai noch gar nicht richtig fassen, dass sie jetzt ein paar Wochen Zeit hat, nur für sich. Schwimmen im Schliersee, das bedeutet Glück für sie. Sich mit Freundinnen treffen. Vielleicht mal ins Kino gehen. Für all das war in den drei Jahren keine Zeit.

Nebenher muss sie sich aber einen Ferienjob suchen, denn sie bekommt jetzt erst einmal kein Bafög mehr. Mit ihren vielen Talenten ist sie für jeden Arbeitgeber vermutlich eine Bereicherung. Und dann muss die Familie auch noch eine Wohnung im Großraum München finden, denn das Haus, in dem sie bisher wohnen, muss dringend saniert werden. "Es ist nicht leicht, aber wir werden es schon schaffen", sagt Navai und lächelt wieder.

Dann geht sie noch kurz rüber in die Uni, weil der Fotograf vorgeschlagen hat, sie dort zu porträtieren. "Muss das sein? Ich bin eigentlich gar kein Fotomensch", sagt sie, während sie durch den Haupteingang in den Lichthof geht. Sie setzt sich auf die Brüstung neben der Haupttreppe, wirft ihre braunen Haare wieder über die Schulter und blickt dann selbstbewusst in die Kamera.

Sie hat sich an der Uni schon beworben, für Mathematik und für Medizin, beides interessiert sie sehr. Mit ihrem Einser-Abi hat sie gute Chancen. München sei jetzt ihre Heimat, sagt sie. Und sie wird dieser Heimat eines Tages mit Sicherheit viel zurückgeben. Wer hätte das gedacht, vor dreieinhalb Jahren, als sie als Flüchtlingsmädchen aus Afghanistan hier ankam.

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