Leben mit Autismus:Tom lebt in seiner eigenen Welt

Lesezeit: 4 min

Julias Leben dreht sich nur um ihren Sohn. (Foto: Catherina Hess)

Seine Mutter möchte den autistischen Sohn fördern. Doch das ist nicht einfach - vor allem, wenn man alleinerziehend ist.

Von Sabine Buchwald

Lange hellbraune Locken umrahmen das kleine Gesicht. Mit großen Augen schaut der Junge in die Welt. Was er dabei denkt? Niemand weiß es so genau. Tom kann nicht richtig sprechen. Der Junge ist sieben Jahre alt und hat Bedürfnisse, wie jedes andere Kind: Er hat Hunger, ist müde, möchte spielen. Manches aber, was Erwachsene von ihm verlangen, möchte er nicht: nichts Stückiges essen, nicht mit der U- und S-Bahn fahren, nicht mit anderen Kindern spielen. Wenn Tom etwas ausdrücken will, was ihm nicht gefällt, dann fängt er an zu schreien.

Manchmal wirft er sich auf den Boden, egal wo, egal wann, im Supermarkt, an der Bushaltestelle. Vielleicht, weil Tom, der eigentlich anders heißt, so auffallend hübsch aussieht, offenbart sich nicht sofort, dass er anders ist. Deshalb wird seine Mutter oft für sein Verhalten verantwortlich gemacht. "Die Leute denken, er ist schlecht erzogen", sagt sie. Die Blicke und Worte verletzen sie. Tom ist Autist und lebt in seiner eigenen Welt.

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Toms Mutter sitzt auf der Couch in ihrem Wohnzimmer, die am Abend zu ihrem Bett wird. In ihrem ehemaligen Schlafzimmer hat jetzt Tom sein Reich. Muss ich meinen richtigen Namen nennen, fragt die schmale Frau mit den zurückgebundenen Haaren. Muss sie nicht. Julia soll sie hier heißen, ihre Geschichte ist das, was zählt. Im Wohnzimmer steht ein Tisch mit vier Stühlen, vor dem Sofa parken Spielzeugautos. Alles ist blitzblank.

Julia rückt den weißen Couchtisch fast unmerklich gerade. "Tom erträgt keine Unordnung oder wenn sich irgendetwas verändert", sagt sie. Seit zehn Jahren lebt sie in der Zwei-Zimmer-Wohnung, zu der ein schmaler Grünstreifen gehört. Als es Tom noch nicht gab, konnte Julia ohne Probleme die Miete bezahlen. Jetzt ist sie eigentlich zu teuer für die alleinerziehende Mutter. Aber wo soll sie hin in München, wo es schwieriger ist, das Zuhause zu wechseln als einen Job?

Apropos Job. Julia war vor ihrer Schwangerschaft in einer Firma als Hauswirtschafterin angestellt. Sie hat für die Belegschaft gekocht, die Büros geputzt, alles ordentlich gehalten. Der Chef habe "Du bist unsere Perle" zu ihr gesagt, erzählt Julia. Nebenbei half sie regelmäßig noch in einer Bäckerei aus. "Ich wollte mir ein gutes Leben leisten", sagt die 44-Jährige. Sie vermisst den Kontakt zu den Kollegen. Sie würde gerne wieder arbeiten gehen, aber sie muss nun für Tom da sein.

Auf der Flucht vor dem Krieg im Kosovo ist sie mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Nach ein paar Jahren versuchte sie, wieder in der alten Heimat Fuß zu fassen und kehrte doch wieder nach München zurück. Wo sie hingehört, weiß Julia nicht so recht. Seit sieben Jahren war sie nicht mehr dort, wo sie als Kind spielte. Wie soll sie mit Tom in den Kosovo kommen? Einen Flug oder eine lange Busreise würde ihr Sohn nicht schaffen.

Ein kleiner Grünstreifen vor dem Wohnzimmer gibt Tom die Möglichkeit, draußen zu spielen. Wie alles in seinem Zuhause, sind auch die Schuhe ordentlich aufgestellt. (Foto: Catherina Hess)

Seit September geht Tom in die erste Klasse einer Förderschule. Ein Schulbus holt ihn täglich ab, doch nicht immer steigt er ein. Nie ist absehbar, wie Tom sich verhält. Jeden Morgen, eigentlich jede Stunde muss Julia auf ihr Kind reagieren. "Ich kann ihn nie aus den Augen lassen", sagt sie. Er würde auf die Straße laufen, aus dem Fenster springen. "Er kennt kein Risiko."

Immer wieder ruft die Schule an, weil der Junge abgeholt werden soll. Weil es ihm nicht gut geht oder weil die Lehrer mit ihm nicht klarkommen. Dann bringt sie Tom im Taxi nach Hause. Vier Mal schon hatte er einen epileptischen Anfall. Ob oder wann ein nächster kommt, kann niemand sagen. Eine Sorge, die die Mutter fast zerfrisst. Sie hat ihr Leben komplett den Bedürfnissen ihres Sohnes untergeordnet. "Er hat abgenommen", sagt Julia. In der Schule esse er fasst nichts. Sie püriere alles und achtet darauf, dass er satt wird. Das kostet Zeit, manchmal ist es ein Kampf zwischen Mutter und Sohn.

Die Corona-Pandemie hat die Förderung des autistischen Jungens erschwert

Während der Schwangerschaft habe sie sehr auf sich geachtet, erzählt Julia, viel Gemüse gekocht. Stundenlang habe sie Mozart gehört, weil sie gelesen hatte, dass dies gut für die Entwicklung des Kindes sei. Einige Monate nach der Geburt spürte sie, dass Tom nicht wie andere Babys reagierte. Er weinte fast nie. Die Ärzte hatten keine Erklärung parat, aber untersuchten ihn regelmäßig. Dann kam der Tag, der Julia erschütterte: die Diagnose "Autismus". Genau zur selben Zeit starb die Oma, meine "Säule", wie Julia sagt. "Ich konnte nicht weinen, meine Geschwister dachten, ich bin ohne Gefühl."

Vier Jahre später ist sie ohne Kraft. Die meisten Bekannten haben sich abgewendet. Mutter und Sohn leben weitgehend isoliert. Zu Toms Vater gibt es keinen Kontakt. Er kann mit der Situation nicht umgehen. Tom mag sich nicht anfassen lassen. Manchmal gehe sie nachts an sein Bett, erzählt Julia, und umarme ihn. Untertags wäre das niemals möglich.

Julia möchte ihren Sohn fördern. Während der Corona-Zeit hat er keinen Heilpädagogen und keinen Logopäden gesehen. Tom hat wie viele Autisten Begabungen. Puzzeln zum Beispiel kann er besonders schnell, das hat auch die Mediziner erstaunt: "100 Teile legt er in fünf Minuten zusammen", erzählt Julia. Sie hat einen großen Wunsch, von dem sie sich Erleichterung verspricht. Sie hätte gerne ein Auto. "Nur ein kleines", sagt sie. "Dann könnte ich immer sofort losfahren, wenn ich gerufen werde. Es wäre viel leichter, zu den Ärzten zu kommen, aber vor allem: Wir könnten zusammen Ausflüge machen, vielleicht mal jemanden besuchen."

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