Adventskalender für gute Werke (I):Wenn der Körper nicht mehr gehorcht

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Ob Tumor oder Muskelkrankheit - mit Kindern, die sich kaum bewegen können, leiden auch die Eltern.

Claudia Wessel

Auf dem Foto, das Sandra in ihr Schulheft geklebt hat, sieht man ein sehr attraktives Mädchen. Neben der Freundin liegt es auf dem Rücken im Gras, lächelt zum Himmel. Die Mädchen haben ihre Gesichter aneinander gelegt, blinzeln in die Sonne und in ihre Zukunft. Sie sind hübsch, sie sind 15, und erwarten gewiss noch viel von ihrem Leben. Eine Aufnahme aus dem Sommer 2004.

November 2005. Auf dem Bett sitzt ein trauriges Mädchen. Auf ihrem rechten Auge trägt Sandra (Namen aller Betroffenen geändert) eine Augenklappe, den Kopf hält sie leicht gebeugt, das Sprechen fällt ihr sehr schwer. Man kann sie verstehen, doch es klingt stockend, undeutlich, unartikuliert. Ihre Finger wirken zittrig. Ihre Bewegungen sind ruckartig. Sandra kann nicht lachen. Nur ein Röhren und Glucksen dringt aus ihrer Kehle, wenn sie durch das Gespräch emotional erregt wird. Ein Hirntumor hat ihr Leben verändert.

Sandra ist immer noch sehr hübsch. Die Haare sind inzwischen wieder gewachsen, sie kann sie sogar schon zu einem kleinen Zopf im Nacken zusammenbinden. Sie muss es auch. Denn sonst verheddern sie sich im Gummi der Augenklappe, die sie tragen muss, weil sie die Augen nicht mehr richtig fokussieren kann. Sandra ist traurig über die Wendung, die ihr Leben vor knapp einem Jahr genommen hat, und sie wünscht sich zu Weihnachten nur eines: "Gesundheit, ganz viel Gesundheit!"

Es war der 17. Dezember 2004, als das Ergebnis der Computertomographie die Ärzte im Klinikum Großhadern alarmierte. "Sofort operieren, gleich dableiben!" hieß es an jenem Tag. Der Tumor am Hirnstamm musste so schnell wie möglich entfernt werden. Wieso Sandra diese Krankheit bekam, weiß keiner. "Sie hatte immer Migräne", erzählt ihre Mutter, "doch das hat meine Mutter auch und wir dachten, sie hat es geerbt."

Dann konnte sie eines Tages in der Schule nicht mehr so gut sehen. "Wir wunderten uns nicht, denn ich bin schließlich auch Brillenträgerin." Endlich schickte ein Arzt sie zum Neurologen. Die Ärzte, die Sandra operierten, machten ihr damals Mut. "An Silvester bist du wieder zu Hause und im Januar gehst du wieder zur Schule!" Doch es kam anders.

"Wir mussten den OP-Bogen unterschreiben, auf dem alle möglichen Komplikationen aufgezählt waren," erinnert sich die allein erziehende Mutter, 40. "Sandra bekam alles!" Silvester verbrachte die verzweifelte Mutter mit ihrer Tochter auf der Intensivstation. "Ich trank Sekt mit wildfremden Menschen, wir saßen in diesem kühlen Raum, und Sandra trug nur ein Hemdchen. Und sie rollte die Augen und schaute total verwirrt in den Himmel mit dem Feuerwerk."

Sandras Mutter bekam es mit der Angst zu tun, als ihre Tochter wirres Zeug redete. Zum Beispiel sagte sie immer wieder: "Fahr nicht zu schnell!" Ob sie sich daran erinnere, fragt die Mutter das Mädchen jetzt beim Interview an ihrem Bett, auf dem sie im Schneidersitz hockt. "Nein", sagt Sandra.

Tom ist glücklich, dass er jetzt einen Elektro-Rolli hat

Zum Glück ist keine intellektuelle Beeinträchtigung zurück geblieben, Sandra kann jetzt nach zehn Monaten in der Reha-Klinik in Vogtareuth wieder zur Schule gehen. Zwar muss sie jeden Morgen von einem Taxi abgeholt, von ihrer Mutter die Treppe hinuntergeleitet werden, doch in der ersten Französisch Hausaufgabe schrieb sie bereits eine Eins.

Sandra nimmt homöopatische Mittel, damit der Rest des Tumors, der zurückgelassen werden musste, nicht weiter wächst. Und damit die Nerven ihres Gesichts wieder hergestellt werden, ihr Gesicht nicht mehr komplett gelähmt ist. Sie freut sich auf die Klassenfahrt nach Frankreich und - außer der Gesundheit - sie wünscht sich eine Kamera zu Weihnachten. Denn Sandra hatte schon immer ein Ziel: Fotografin zu werden.

Sandra hat Hoffnung. Hoffnung, dass sie irgendwann wieder so lächeln kann wie auf dem Foto in ihrem Heft. Für die Betreuung, die sie jeden Nachmittag braucht und die nicht von der Stadt oder der Krankenkasse übernommen wird - anders als die etwa die vormittägliche Schulbegleitung - braucht die berufstätige Mutter Geld.

Sie hat ihre Stelle bereits auf vier Tage reduziert - weniger gestattet ihr Arbeitgeber nicht. Außerdem bräuchte die Familie dringend eine rollstuhlgerechte Wohnung. Im Moment wohnen Mutter und Tochter im zweiten Stock ohne Lift, Sandra kann sich alleine nicht aus dem Haus bewegen.

"Eltern erleben die Behinderung bei ihren Kindern als schwere seelische Verletzung", sagt Professor Hubertus von Voss, Ärztlicher Direktor des Kinderzentrums München. "Ihr eigenen Lebensentwürfe und Lebensplanungen werden durch die oft lebenslange chronische Krankheit oder Behinderung bei ihren Kindern belastet." Wegen der seelischen Belastungen benötigten die Kinder wie auch ihre Eltern psychotherapeutische Begleitung. "Paart sich Krankheit mit sozialer Not in der Familie, dann bricht vielfach ein Chaos über diese Menschen herein."

Tom liegt in seinem Rollstuhl, neben ihm stehen Oma und Krankenschwester. Geduldig spielen sie mit Tom "Fang den Hut". Sie müssen dabei nicht nur ihre eigenen Hütchen, sondern auch die des Sechsjährigen setzen. Denn Tom leidet unter spinaler Muskelatrophie - seine Muskeln sind am ganzen Körper so schwach, dass er sich nicht bewegen, nicht einmal alleine atmen kann. Aus seinem Hals ragt ein Plastikschlauch, aus dem immer wieder ein Röcheln dringt. Tom wird beatmet.

Über eins aber sind die Eltern glücklich: Tom kann sprechen! Und dank dieser Fähigkeit wissen die Eltern, wie intelligent und weit entwickelt er ist. Zur Zeit "sammelt er Auf Wiedersehens in allen Sprachen". In seinem Zimmer hat er es in Arabisch, Französisch, Chinesisch an die Wand schreiben lassen. "Er ist ein Kopfmensch!" sagt seine Mutter. Weil er in seinem Körper so hilflos ist.

Dass er seit September in die Schule geht, gefällt ihm sehr gut. Dass er dafür jetzt einen Elektro-Rolli hat, den er selbst steuern kann, macht ihn glücklich. Zu Weihnachten wünscht er sich ein Notebook - zum einen, weil er es für die Bewältigung der Schule braucht, zum anderen, weil er aus dem Internet noch so viel Wissenswertes erfahren könnte. Tom stellt viele Fragen. Nur eine kann ihm keiner richtig beantworten. Warum gerade er diese Krankheit hat.

© SZ vom 26. November 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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