Advents-Serie: Beflügelt:Als sich Trödeln noch gelohnt hat

Engelsloge in der Münchner Staatsoper, 2005

Die Engelsloge.

(Foto: Catherina Hess)

Die Engelsloge der Oper war einst der Himmel der Zuspätkommer

Von Jutta Czeguhn

Charles Maxwell zieht einen Schlüsselbund aus seiner Anzugtasche. Als Vorderhausmanager der Staatsoper hat er für so ziemlich jede Tür im Nationaltheater einen Schlüssel. Auch für jene, die in eine der beiden Engelslogen im dritten Rang führt. Es ist zappenduster im Vorraum, Maxwell geht voraus, er öffnet noch eine Tür. Klack, klack, klack, die Tropfentöne eines Xylofons springen einen so unmittelbar an, als würde sich der Schlagwerker des Staatsorchesters hier oben für seinen wilden Part in Chatschaturjans "Spartacus" einspielen. Doch die Loge im Proszenium hoch über dem Orchestergraben ist menschenleer. Ein Stuhl, ein Notenständer und mächtige Scheinwerfer. Bis 2010 wurden in der obersten der Proszeniumslogen, mit den beiden Engelsfiguren zur Rechten und zur Linken, nach Vorstellungsbeginn noch Besucher eingelassen. Aus Sicherheitsgründen sei das heute verboten, sagt Charles Maxwell. Nicht wenige Zuspätkommer bedauern das zutiefst.

Denn ist man schwindelfrei und kann sich über das niedrige Metallgitter beugen, dann ist der Blick von hier oben spektakulär (). Mit einem guten Operngucki könnte man Kirill Petrenko direkt in die Partitur spähen oder auch erste Anzeichen von altersbedingtem Haarausfall auf einem Tenorenhaupt entdecken. Von der prima Akustik gar nicht zu reden. Auch die weißen Marmorengel - es sind insgesamt vier, weil es ja zu beiden Seiten der Bühne Proszeniumslogen gibt - lassen sich aus nächster Nähe studieren. Sie haben fabelhaft große Flügel. Mit ausgebreiteten Armen stehen sie da. Der Münchner Bildhauer Franz Mikorey hatte sie für das 1963 wiedererrichtete Nationaltheater neu gestaltet. Die Originale waren im Krieg zerstört worden. Die Engel tragen eindeutig weibliche Attribute, von der Loge aus betrachtet man den kunstvollen Faltenwurf ihrer Gewänder und bekommt plötzlich Zweifel an ihrer Natur. Sind diese Himmelsgestalten nicht eigentlich Genien, heidnische antike Schutzgeister, die über einen Ort und die Sterblichen wachen sollten?

Charles Maxwell reißt einen aus solchen Spekulationen, er hat es eilig, gleich beginnt das Ballett. Sollte es an diesem Abend Zuspätkommer geben, wird man sie bitten, vor einem Bildschirm im Cappriccio-Saal die Vorstellung zu verfolgen, bis sie nach der Pause ihre Plätze einnehmen können. Zu spät kommen ist bequemer, aber auch ein wenig langweiliger geworden in der Staatsoper.

Als Adventskalender erzählt die Stadtviertel-Redaktion Münchner Engels-Geschichten. Am Mittwoch: der Friedensengel.

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