Süddeutsche Zeitung

Acht Quadratmeter voller stiller Würde:Kunst im Klo

Lesezeit: 4 min

Anja Uhlig hat einen Raum, der lange Zeit verrucht war, 2009 angemietet und gründlich geputzt. Heute ist das alte Pissoir an der Großmarkthalle ein einzigartiger Treffpunkt, in dem Künstler aus der ganzen Welt ausstellen

Von Jutta Czeguhn

Das Klohäuschen wirkt etwas abweisend, verschlossen. Nun, es ist verschlossen, denn Anja Uhlig ist noch nicht da. Sie hat den Schlüssel. Vor der Tür des ehemaligen Pissoirs am Westeingang des Großmarkthallen-Geländes warten Stephanie Müller und drei Japaner, allesamt Künstler, die mit dem Klohäuschen als Hauptdarsteller einen Film drehen wollen. Müller erklärt einer japanischen Kollegin gerade auf Englisch, wie sie Tortenhauben günstig im Internet kaufen kann. Die Japanerin braucht diese für ihre Kunst, sie arbeitet mit Gerüchen. Das Klohäuschen, möchte man meinen, hätte zu diesem Thema einiges beizutragen. Aber es steht da und schweigt. Wartet auf Anja Uhlig.

Da kommt sie auf dem Fahrrad angesaust, mit rasantem Tempo schießt sie auf das Klohäuschen zu. "Entschuldigung, ich bin zu spät!", ruft Uhlig, der aschblonde Pferdeschwanz wippt. Sie springt noch halb im Fahren vom Sattel. Etwas außer Atem zieht sie den Schlüsselbund aus einer Tasche ihrer weiten Kleidung und öffnet das . . . Schon ist man mitten im Definitionsdilemma. Als die Australierin Fiona Davies vor ein paar Wochen ,Artist in residence' im Klohäuschen war und es mit Seide auskleidete, nannte sie den Ort, keineswegs abwertend, immer nur "Das". Drückte sich geschickt um das für sie unaussprechliche Umlaut-SCH-Monster "Klohäuschen".

Anja Uhlig findet so etwas amüsant, aber auch ein wenig symptomatisch: Die Leute stochern in der Sprache herum, suchen nach einer schlüssigen Formel für diesen unscheinbaren, womöglich hässlichen Raum an der Ecke Oberländer- und Thalkirchner Straße in Sendling. Ist es ein Offspace, eine besonders abseitige Location, eine schräge Galerie, ein Mikro-Museum? Nichts von alledem, sagt Anja Uhlig. Für die 44-Jährige ist das Klohäuschen vor allem ein Ort, in den sie sich vor über zehn Jahren verliebt hat. Ja, sie benutzt das Wort sehr bewusst: "verliebt".

Große Liebesgeschichten beginnen zumeist, wenn andere, weniger große zu Ende gehen. So war das auch Mitte der Nullerjahre, privat steckte Uhlig in einer schwierigen Beziehung. Auch beruflich sinnkriselte es. Die studierte Wirtschaftsinformatikerin, aufgewachsen in Regensburg, arbeitete damals als Programmiererin bei der Post, um ihre Kunstprojekte zu finanzieren. "Als Technikerin bin ich immer irgendwie im Keller gelandet, und hab mich gefragt: Schei.., was machst du da?", erzählt sie, während Steffi Müller und die Japaner im Klohäuschen langsam das Film-Set aufbauen. Schon damals wohnte Anja Uhlig in der Gegend um die Großmarkthalle. Oft saß sie dort in einer Trattoria und konnte von da hinüber auf das heruntergekommene Pissoir am Eingangstor des Großmarkts schauen. Der erste, scheue Blickkontakt.

Uhlig zog also Erkundigungen ein: Zeitgleich mit dem Bau der Großmarkthalle war die öffentliche Herrentoilette 1912 errichtet worden, für Mitarbeiter und Kunden. Verlässlich tat das denkmalgeschützte Stehpissoir seinen Dienst, bis es in der Nachbarschaft böse in Verruf geriet. Es war zu einer "Klappe", einem Ort für anonymen, schwulen Sex geworden. Und weil sich das so gar nicht schickte, wurde das Klohäuschen in den Neunzigerjahren zugesperrt. Klappe zu. Anja Uhlig sagt heute, es habe sich schlafen gelegt. Die Künstlerin und ihr damaliger Freund fragten 2008 beim Großmarkt nach, ob sie den Raum als Atelier anmieten könnten. Naserümpfen war die Antwort: "Dort wollen Sie arbeiten, das ist nicht Ihr ernst?!" Aber dann kam doch jemand vorbei und drehte nach all den Jahren den Schlüssel im Schloss um. Die Tür ging auf, und um Anja Uhlig war es geschehen.

Der Ort rührte die Künstlerin an, tut es immer noch. Seine stille Würde auf acht Quadratmetern, seine melancholische Schönheit, die Anja Uhlig in den vanillefarbenen Kacheln sieht. Dann die Sichtschutzwand aus 52 Glasbausteinen. Beleuchtet sehe die von draußen aus wie ein Bergkristall, schwärmt Anja Uhlig. Und das Markenzeichen des Ortes, die sechs geschwungenen Urinale, darauf lasse es sich herrlich gemütlich sitzen. "Ich habe sie 100 000 Mal geputzt, anfangs mit Gummihandschuhen, denn es war nicht superappetitlich", schickt sie schnell hinterher. So wie Uhlig auf den Pinkelbecken herumturnt, ist sie sehr vertraut mit dem Ort. Das Klohäuschen lässt es geschehen wie ein alter, gutmütiger Elefant.

Eigentlich ist es ein stinknormaler Deal: Anja Uhlig zahlt monatlich 100 Euro Miete an die Großmarkthalle, das Klohäuschen gehört ihr, aber das trifft nicht der Kern dieser Beziehung. Uhlig, die IT-Spezialistin, die mittlerweile wieder sehr zufrieden halbtags freiberuflich arbeitet, neigt so gar nicht zu esoterischem Geschwurbel. Und doch spricht sie vom Klohäuschen mit großer Selbstverständlichkeit wie von einer Person. Mal wie von einem Künstlerkumpel, mal wie von einem Freund, dem man die ein oder andere Macke liebevoll nachsieht.

Das Klohäuschen, sagt sie und kann dabei halbwegs ernst bleiben, es sei auch ein wenig größenwahnsinnig. So wollte es beispielsweise unbedingt eine Biennale haben, eine richtige wie die in Venedig. Anja Uhlig konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen. Das Klohäuschen betreibt auch eine eigene Facebook-Seite. Und es besitzt eine Seele, davon ist die Künstlerin überzeugt, die eine Seelenverwandtschaft nicht leugnet. "Maßnahmen zur Beseelung des Klohäuschens an der Großmarkthalle", nennt sie dieses Herzensprojekt, das sie mit ihrem "Realitätsbüro" betreut. Uhligs Ein-Frau-Kunstagentur hat auch schon einen Granatapfelwald zwischen München und Istanbul gepflanzt und ein altes Postamt an der irischen Küste in einen Umschlagplatz für Geschichten verwandelt. Auch so ein Ort, in den sich Uhlig verliebt hat. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.

Im winzigen Raum im an der Großmarkthalle hat es seit dem Start 2009 annähernd 80 Aktionen gegeben, gefördert vom Kulturreferat. Die Künstler, besser "Gäste", kommen mittlerweile aus der ganzen Welt. Anja Uhlig und das Klohäuschen haben ein internationales Netzwerk gesponnen. Sie seien offen für Ideen, "die jenseits von allem sind, was irgendwie clean oder abgesteckt ist", sagt Filmemacherin Steffi Müller. Zu Gast sind Künstler, Performer, Architekten, Wissenschaftler oder Musiker. Leute, die sich wie sie, "selbst nicht so wichtig, ihre Arbeit jedoch sehr ernst nehmen". Im Pissoir, das keine festen Öffnungszeiten hat, sich aber durch die Scheibe in der Tür rund um die Uhr der Welt öffnet, wurden schon Alben aufgenommen, man hörte ein Faultier schnarchen, es gab pneumatische Staubsauer-Kunst, Workout für körperlose Wesen, ein Hair-Picnic und aktuell ein Atem-Video aus Dänemark.

Anja Uhlig und ihr Klohäuschen möchten im Kleinen, Intimen mit der Welt interagieren, mit spielerischem Ernst, ohne eine platte Provokation. Es geht um etwas anderes, es geht um Freiheit. "Ganz am Anfang habe ich mit dem Klohäuschen einen Deal gemacht; es darf so sein, wie es ist, nutzlos", sagt Uhlig. Wer jahrzehntelang bepisst wurde, habe sein Soll als nützlicher Teil der Gesellschaft ohnehin längst übererfüllt. Auch Anja Uhlig hat genug von dem Zwang, immer irgendetwas, irgendjemand sein zu müssen. Sie und das Klohäuschen wissen nicht genau, was die Zukunft bringt. Aber sie wollen, auch das gehört zum Deal, noch eine Weile gut aufeinander aufpassen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3150664
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.09.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.