Abschiedstrinken in der Münchner S-Bahn:"Einer geht noch, einer geht noch rein!"

Seit heute darf in Münchnens S-Bahn kein Alkohol mehr getrunken werden. Doch in der Nacht zuvor haben mehrere tausend Feiernde die Züge in eine Party-Location verwandelt. Von feierwütigen Prosecco-Mädels, hilflosen Fahrgästen, heldenhaften Bahn-Mitarbeitern - und geschäftstüchtigen Trittbrettfahrern.

Marco Völklein

Aus, Schluss, vorbei: Ab Sonntag darf in den Münchner S-Bahnen kein Alkohol mehr getrunken werden. Doch in der Nacht zuvor haben mehrere tausend Feiernde die Züge in eine Party-Location verwandelt. Von feierwütigen Prosecco-Mädels, hilflosen Fahrgästen, heldenhaften Bahn-Mitarbeitern - und geschäftstüchtigen Trittbrettfahrern.

U-Bahnhof Odeonsplatz, 19.24 Uhr

Zwei junge Mädchen sitzen in der U4 Richtung Theresienwiese. Jede hat eine Flasche Piccolo in der einen Hand, in der anderen jede ein Smartphone. "Guck mal, der Sebastian ist schon da", sagt die eine. "Und? Schon was los?", fragt die andere. "Neeee, bislang alles ruhig. Shit!"

S-Bahnhof Stachus, 19.40 Uhr

TV-Teams drängen sich um Bernhard Weisser, den Chef der Münchner S-Bahn. "Wir sind vorbereitet", sagt er in die Mikrofone.

Brunnen am Stachus, 20.06 Uhr

Plötzlich setzen sich mehrere hundert Jugendliche, die sich zunächst vor einer Hamburgerbraterei getroffen hatten, in Bewegung. "Jetzt geeeht's los, jetzt geeeht's los", rufen sie. Und immer wieder: "Scheiß-MVV, Scheiß-MVV". TV-Kameras am unteren Ende der Rolltreppe zum S-Bahnhof filmen, wie eine ganze Welle von Menschen auf den Bahnsteig brandet.

S-Bahnhof Stachus, 20.11 Uhr

Die Jugendlichen singen schon wieder: "Einer geht noch, einer geht noch rein!" Doch die S-Bahn ist - im mittleren Abschnitt jedenfalls - zum Bersten gefüllt. Nichts geht mehr. Die Ansagerin müht sich vergebens: "Bitte an allen Türen zusteigen." Im Tunnel wartet bereits die nächste S-Bahn. Aber die schiere Masse der jungen Leute verhindert die Abfahrt.

S-Bahnhof Hackerbrücke, 21.40 Uhr

In einem Container ganz am Ende des Bahnsteigs hat sich ein junger Mann ein Taschentuch um die Hand gewickelt. Er blutet. Polizisten nehmen die Personalien auf. "Der hat im Waggon das Licht ausgeknippst", sagt einer, der etwas abseits steht, und lacht hämisch. Auf dem Gleis daneben steht noch die S-Bahn, mit der sie gekommen sind. Im Eingangsbereich einer Tür liegen Glassplitter am Boden.

S-Bahnhof Marienplatz, 21.56 Uhr

Ein älteres Paar wartet auf die S8 nach Herrsching. Als der Zug einfährt, ist der Bereich, in den sie einsteigen wollen, gesteckt voll mit Menschen. Die ganze S-Bahn wippt, weil im Zug gehüpft wird wie wild. "Was machen wir denn jetzt?", fragt die Frau verzweifelt. "Die nächste fährt in 40 Minuten." Ein Sicherheitsmann der Bahn deutet einem Kollegen am Kopf des Zuges, er soll die Bahn kurz warten lassen. "Kommen's", sagt er zu dem Paar. "Vorne ist Platz. Und Ruhe."

Leergutsammler machen gutes Geschäft

Ostbahnhof, Bahnsteig 3, 22.54 Uhr

Eine S-Bahn fährt ein. "Ein-stei-gen, ein-stei-gen", skandieren die Jugendlichen und drängeln sich in ein Abteil. Einige beginnen, an den Leuchten herumzuschrauben. Sicherheitsleute der Bahn zerren zwei aus dem Zug, es beginnt ein lauter Streit. "Wir machen doch nix", rufen die Jugendlichen. "Sachbeschädigung!", entgegnen die Bahn-Leute. Der Gruppenführer notiert die Namen der Jugendlichen.

Ostbahnhof, Bahnsteig 3, 23.06 Uhr

Erneute Rangeleien zwischen Bahn-Sicherheitsleuten und Jugendlichen. "Mäßigt Euch", mahnt ein Bundespolizist: "Ihr macht es doch nur noch schlimmer." "Wir haben auch einen Arbeitgeber", entgegnet ein Sicherheitsmann.

S-Bahnhof Stachus, 23.25 Uhr

S-Bahn-Chef Weisser steht in einer Glaskanzel auf dem Bahnsteig, immer wieder klingelt sein Handy. Er wirkt erschöpft. "Wir haben ein Notfallprogramm gestartet, um die Stammstrecke zu entlasten." S1 und S6 fahren nicht mehr durch die Röhre, sie wenden am Hauptbahnhof beziehungsweise an der Donnersberger Brücke. Zuvor ging auf dem nördlichen Gleis für etwa 30 Minuten gar nichts mehr. "Wir haben zwei Züge wegen Vandalismusschäden geräumt und aus dem Verkehr gezogen." Daher war die Stammstrecke blockiert. "Eine S-Bahn, in der die Beleuchtung komplett ausgefallen ist, können wir nicht mehr einsetzen."

S-Bahnhof Stachus, 23.46 Uhr

Ein junger Mann ist angetrunken, als er in die S-Bahn steigen will, fällt ihm sein Handy aus der Hand - und rutscht ihm ins Gleis. Ein Sicherheitsmann lässt den Bahnverkehr kurzzeitig stoppen, springt runter und reicht das Handy dem jungen Mann. Der umarmt den Bahner und sagt: "Du bist mein Held des Abends."

S-Bahnhof Marienplatz, 0.05 Uhr

In der S3 nach Mammendorf trudeln leere Bier- und Sektflaschen über den Boden, daneben liegen leere Chipstüten, Zigarettenkippen. Jede zweite Leuchte ist dunkel. "Wie sieht's hier denn aus?", fragt ein Mann, der Kleidung nach war er in der Oper. "Und stinken tut's", sagt seine Frau. In der Tat: Die Luft ist geschwängert von kaltem Zigarettenrauch.

S-Bahnhof Isartor, 0.35 Uhr

In der S4 nach Grafing sammelt eine Mittfünfzigerin leere Flaschen ein. Ein Tragerl und zwei Plastiktüten hat sie schon gefüllt. Immer wieder bückt sie sich, hebt Papierfetzen und Kronkorken auf, wirft sie in die Abfallbehälter. "Ich kann das nicht sehen, wenn es so dreckig ist", sagt sie. "Da muss ich was tun." Das Leergut schleppt sie am Ostbahnhof aus dem Zug. "Das bringt sicher 20 Euro."

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