Süddeutsche Zeitung

Abschied von Kent Nagano:Protestantische Sexualtherapie

Er ist einer der beliebtesten Chefdirigenten, die München erlebt hat: Kent Nagano verabschiedet sich als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper mit "Parsifal". Doch Wagners musikalische Fleischeslust scheint ihm höchst suspekt zu sein.

Von Helmut Maurò

Am Ende ist Kent Nagano einer der beliebtesten und geschätztesten Chefdirigenten, die München in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Und dabei denkt man immerhin an Namen wie Zubin Mehta, Lorin Maazel, James Levine und jüngst Christian Thielemann. Wie sehr die Münchner - im Gegensatz zu Intendant Nikolaus Bachler, der den Vertrag seines Generalmusikdirektors nicht verlängerte - Nagano ins Herz geschlossen haben, konnte man an den Ovationen seines letzten Chefdirigats ablesen, das im Einzelnen gar nicht so gelungen war, dennoch einen für Nagano typischen, stimmigen Gesamteindruck hinterließ.

Die Abschiedsvorstellung war zugleich der Abschluss der Münchner Opernfestspiele, bei denen an 41 Tagen mehr als 75 Veranstaltungen auf dem Spielplan, standen, davon allein 17 Bühnenwerke der Jubilare Richard Wagner und Giuseppe Verdi. Traditionellerweise beschlossen die Münchner Opernfestspiele mit Wagners "Meistersinger", diesmal war es dessen "Parsifal". Für Nagano war es das letzte Dirigat als Generalmusikdirektor, er wird im Januar 2014 drei Vorstellungen von Jörg Widmanns "Babylon" dirigieren. Seine offizielle Abschiedsvorstellung hatte Nagano bereits am 23. Juli mit der deutschen Erstaufführung von George Benjamins "Written on Skin" gegeben. Und auch der offizielle Abschiedsempfang fand bereits am Abend des Akademiekonzerts vom 10. Juni statt.

Nun aber der tatsächliche Abschied mit Wagners "Parsifal" in einer fast schon historischen Produktion: Peter Konwitschnys Inszenierung von 1995. Die funktioniert immer noch ganz gut, auch wenn ihr der intime Charme der ersten Stunde ein wenig abhanden gekommen ist. Konwitschny hatte die Geschichte um den verwundeten Gralskönig Amfortas, der impotent gewordenen Ritterschaft und den jugendlichen Erlöser Parsifal heruntergebrochen auf "Menschen, die in Not sind". Man sieht Figuren in graubraunen Mänteln in einem gekachelten Raum herumirren, schließlich folgen sie wie ferngesteuert einer Madonna, die ein Stockwerk darüber über die Felder wandelt.

Diese weißgewandete verschleierte Madonna entstieg, flankiert von zwei unschuldigen Kindern, einem Tabernakel. Der ist in den bühnenhohen Baum eingelassen, der die Szenerie beherrscht: liegend, sich aufrichtend, stehend, mit gelben Blättern geschmückt als Zaubergarten, am Ende verkohlt die weinerlichen Gralsritter anstarrend, die noch immer auf Fremdhilfe hoffen, auf "Erlösung". Der verwundete König - ein Schreckensbild blutender Lenden und geschlagenen Geistes - richtet nichts mehr, er weigert sich, die wunderheilige Gralszeremonie zu zelebrieren; Parsifal wird das später übernehmen und ihn sowie die ganze Ritterschaft von allen Übeln befreien.

Wagner hat den mittelalterlichen Mythos arg katholisiert, hangelt sich inhaltlich detailliert an der Messordnung entlang, terminiert die Opernhandlung auf den zweithöchsten christlichen Feiertag, den Karfreitag, hantiert freimütig mit freudianisch anmutender Sexualpsychologie, die aber im Sinne der Zeit und christlicher Tradition moralisch zugerichtet wird.

Als der junge Parsifal von Klingsors "Zaubermädchen" umgarnt wird, schreitet die Seherin Kundry ein und ruft ihm bei jenem Namen, dem ihm seine verstorbene Mutter gegeben hat. Kundry als Quasi-Mutter auftretend, verscheucht die aufreizenden und aufdringlichen Mädchen, bietet sich selber an, um ihm als "Muttersegen der Liebe ersten Kuss" anzubieten. In der Konwitschny-Inszenierung legt sie sich auf den Boden, Parsifal über ihr, sie will nicht nur Kuss, sondern auch Erlösung, zieht ihn zu sich herunter, stößt ihn dann aber doch weg. Damit ist Parsifal dem Äußersten gerade nochmal entkommen, schließlich muss er als künftiger Ritter auch dem Keuschheitsgelübde folgen. Und die klaffende Wunde des Amfortas, des lebensfreudigen Königs mit seinen orgiastischen Tafelrunden, sie steht natürlich für sexuelle Aktivität, die damals Ausschweifung hieß und mit quälend tödlicher Syphilis bestraft wurde.

Wagner malt das alles in herrlich düsteren Farben und markerschütternd wohligem Grauen. Kent Nagano kann damit offenbar nicht viel anfangen, Wagners musikalische Fleischeslust scheint ihm höchst suspekt zu sein. Mit spitzen Fingern fasst er gerade jene Stellen an, in denen es orchestral richtig zur Sache geht.

Das dröhnende Glockengeläut, das die Quintschrittsequenz der Rom-Pilger im Bass raumgreifend einlullt, das muss man an diesem Abend mit der Seele suchen; aus weiter Ferne weht es leise herüber. Aber kann man Wagner so vornehm, so protestantisch aufziehen, kann man diesem Komponisten eine klangästhetische Krawatte binden, wo der sein Hemd aufreißt und mit knallenden Pauken, spitz dreinfahrenden Trompeten und markerschütternden Bässen aufs Ganze geht? Das kann man vielleicht, wenn man so konsequent agiert wie Nagano und die Züchtigung des Wagner-Klangs gleichsam von allen Seiten her betreibt.

Zum Beispiel durch leicht überzogene Generalpausen, die manches trennen, was einst spannend zusammengehört, oder durch ein eher gemäßigtes Tempo, das umgekehrt einiges aufleuchten lässt, was sonst untergeht. Letztlich ist es der konsequente Wille und die Geschlossenheit des Ergebnisses, die Naganos Sicht auf Wagner an vielen Stellen überzeugend erscheinen lassen. Nicht ganz unschuldig daran: Ein bis auf die zwei Knaben großartiges Sängerensemble, allen voran Petra Lang als zwielichtig beunruhigende Kundry, der durchschlagende Bass des Kwangchul Youn als Gournemanz und Christopher Ventris als strahlend heldischer Parsifal.

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