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Abschied vom Atomic Café:Wo die Capri-Sonne niemals untergeht

Das Atomic war Indie-Disco und Britpop-Treff, Heimat für Northern Soul und Folk. Es sammelte die Außenseiter und die Überflieger ein, die Nichttänzer und die Freaks mit der umgehängten Aufblasgitarre. Doch nun schließt der Club - für immer. Eine wehmütige Würdigung.

Von Max Scharnigg

Auch etwas Körperloses wie die Musik braucht Orte. Sie braucht Bühnen und Plattenläden, Kirchen und Clubs. Und wenn die Musik an ihrem Ort angekommen ist, dann passiert etwas. Das Atomic Café in der Neuturmstraße war so ein Ort, wo etwas passierte. Ein Musikort und es ist eigentlich erstaunlich, dass er es ohne Anlauf und Mühe war.

Als im Januar 1997 zum ersten Mal die schwere Tür aufging, fühlt es sich an, als wäre was dahinter lag, schon immer da gewesen, nur bis dato eben ohne Tür nach draußen. Die vergilbten Space-Age-Memorabilia in der Vitrine, die orangefarbene Espressomaschine, das komische Pillenbox-Dekor an den Wänden und auf den Flyern, der Glitzervorhang, der aussah, als wäre Disco darin zur Welt gekommen, die Nelkenzigaretten, die man nur hier rauchte - ja, es war retro, aber auf eine zeitlose Art.

Dieser Club mit dem idealen Grundriss und der perfekten Größe, hatte von Anfang an seine eigene Zeitrechnung, und die war irgendwo zwischen frühem Soul und spätem Morrissey in eine Endlosschleife geraten. Woche für Woche konnte man zusteigen, jeden Abend ging dort eine Sonne auf in der Farbe von Capri-Sonne, aber stets dunkel genug, um jeden gut aussehen zu lassen. Es war eine Welt, die unter dem DJ-Pult viele kleine Welten vereinte, das war schon das erste große Kunststück.

Eine Heimat für Außenseiter und Überflieger, Nichttänzer und Freaks

"Das Atomic" bedeutet nicht nur Indie-Disco, Britpop-Treff, bester Independent-Konzertort der Stadt, es gab auch den peniblen Mods und der eingeschworenen Northern-Soul-Szene eine Heimat, schätzte Rockabilly ebenso wie Folk und die neue Elektronik und vielen anderen Nischen, die für den Mainstream verloren waren. Es sammelte die Außenseiter und Überflieger ein, die leisen Nichttänzer und auch die Freaks mit der umgehängten Aufblasgitarre, es war immer gleichzeitig sehr jung und würdig gealtert.

Mit seinen treu rotierenden Clubabenden für die unterschiedlichen Szenen war es aber doch ein Gewächs der Neunzigerjahre. Das war schließlich das letzte echte Nerd-Jahrzehnt, in dem noch Freundschaften über der Frage Oasis oder Blur zerbrechen konnten, Distinktion aus der Plattensammlung gezogen wurde, Schuhe, Klamottenmarken, Bandshirts etwas bedeuteten. In München gab es damals, in der Frühzeit des Atomic, noch richtige Flohmärkte und man ging zum WOM, um sich die Musik anzuhören, die der Musikexpress/Sounds, das Stadtmagazin Prinz oder irgendein kopiertes Fanzine empfahlen.

Und dort beim WOM, an der kurios analogen Vorhörtheke, öffnete übrigens ein gewisser Hannes Liebl die Plattenhüllen, genau wie er es später auf der DJ-Kanzel machte und mit vielen anderen DJs mithalf, jenen Sound zu finden, der das Atomic bald zum strahlendsten Punkt auf der Ausgeh-Karte machte. Man kannte die Neuturmstraße 5 jedenfalls in London, New York und Stockholm, noch bevor man in Fröttmaning davon gehört hatte.

Und alle wollten hierhin.

Alle wichtigen Bands und vor allem jene, die noch wichtig werden sollten. 2500 Konzerte in den vergangenen 18 Jahren kamen so zusammen und wenn man anfängt Namen aufzuschreiben, kann man auch gleich wieder aufhören, so viele ganz Große sind darunter, so viele legendäre Glühwürmchen und Leuchtfeuer. Das nachhaltige Booking, das stoisch Helden neben Newcomer in den Club holte, winzige lokale Bands (eine davon hieß damals noch Stiller) ebenso wie unaussprechliche japanische Elektropunks, war das größte Verdienst der beiden Geschäftsführer. Sie waren wie Bürgermeister für unterschiedliche Stil-Viertel ihrer kleinen Welt zuständig und trotz aller Unstimmigkeiten der beiden, die manchmal im Gästebuch der uralten Homepage oder zuletzt auf Facebook ausgetragen wurden, waren es diese Herren, Christian Heine und Roland Schunk, die den Club bis zuletzt auf internationalem Niveau hielten - als einen der wenigen in München.

Das Atomic war aber noch mehr als die Summe seiner Konzerte, es war nicht nur ein Auftrittsort, an vielen Abenden waren die Bands nur Taktgeber für den viel größeren, eigenen Wahnsinn des Clubs. In kurzer Zeit war er Inbegriff der guten Nacht geworden, jeder wusste, dort war Großes im Gange und man musste dabei sein, ohne genau sagen zu können, wobei. Die Abende folgten dann immer der gleichen Dramaturgie und waren doch jedes Mal anders.

Der Hinweg durch einen Teil der Stadt, wo es doch eigentlich nichts Subversives mehr geben konnte. Und genau so war die Tür ja auch, unscheinbar und glatt, so dass Neulinge nicht nur ein- sondern dreimal daran vorbei liefen. Kein Griff, keine Klingel waren daran, nur ein paar Dellen, die rauflustige Iren mit einem Straßenschild hineingeschlagen hatten, verzweifelt an der kalt-verschlossenen Fassade.

Dabei musste man nur demütig warten, eine Minute oder eine Stunde, mit fünfzig anderen oder allein. Die Tür ging irgendwann auf, die Türsteher musterten einen herzhaft-streng, sahen dann erst noch eine schlimme Sekunde vage in die Nacht und rüber zu der kleinen Rotlicht-Bar, die es heute längst nicht mehr gibt, und dann nickten sie einen doch hinein, an die immer improvisiert wirkende Kasse.

Dann war Vorstellung! Weil die DJs, die Barkeeper und das Kioskfräulein jeden Abend ihre Jobs mit Liebe verrichteten und man ihnen auch einfach nur dabei zusehen und wie von selbst betrunken werden konnte. Weil immer "komisches" Publikum da war, Abiturientinnen aus den Umlandgemeinden, legendäre Vamps, Bar-Urgesteine und geheimnisvolle Jünglinge mit schmalen Krawatten und traurigen Augen. Das Atomic hat diese Mischung jede Nacht verrührt und eingekocht zu einer schönen Zeitgeist-Marmelade, die nach Gin-Tonic und Nelken roch.

Das dunkle Herz der Innenstadt schlägt auch an einem Mittwochabend

Es hatte die optimale Aufteilung, mit den beiden Bars, den unterschiedlichen Ecken und Ebenen, dem richtigen Verhältnis von Sesseln und Tanzflächenquadratmetern, Hell und Dunkel und dem hauseigenen Zugang zur Hölle, als Toiletten getarnt. Es war nie zu groß, aber oft zu klein. Es hatte ein eigenes Wetter, eigene Lieder, eigene Strömungen, die einen auch bei lückenloser Vollbesetzung zunächst an die linke Bar schwemmten, wo man stets schnell und korrekt bedient wurde, egal, wie korrekt man selbst noch war. Dann wieder in die Strömung und treiben lassen, an den ekstatischen Tänzern vorbei und den brandgefährlichen, lauernden Atomic-Mädchen, die winzig waren und mit ihren akkuraten Scheitelfrisuren im Dreieck zwischen Backstagezugang, rechter Bar und Mädchentoilette patrouillierten, um Bandmitgliedern aufzulauern. Dann war man an der rechten Bar, wo man eine gute DJ-Aussicht hatte und zusehen konnte, wie sich alle auf einen Ton hin auf der Tanzfläche absetzten - altes Atomic-Ritual für das verehrte Lied "Sit down" der ebenfalls verehrten Band James. Dann trieb es einen weiter zur Säule, an der immer jemand stand, den man kannte oder zumindest ein herrenloses Bier. Schließlich brandete man in der hinteren Sitzecke aus, wo zu vorgerückter Stunde unaussprechliche Dinge stattfanden.

Kam man hier an, waren Stunden vergangen und im Grunde war nichts weiter geschehen, als dass sich alles gigantisch überschlagen hatte. Erst so wird ein Club zum wahren Club: Wenn er sich zuverlässig jeden Abend überschlägt, auch wenn es nur ein lauer Mittwochabend ist, an dem die restliche Stadt um elf ins Bett geht. Spuckte einen die Tür am Morgen wieder aus, auf dieses gesichtslose Stück Neuturmstraße, Niemandsland zwischen Maximilianstraße und Tal, Platzl und Parkhaus, hatte man das Gefühl, das dunkle Herz der Innenstadt zu verlassen, das immer schlug.

Deswegen ging man jede Woche wieder hin. Und weil hier die Geschichten stattfanden, die alle interessierten, weil hier das geschah, was mit Jungsein gemeint ist.

18 Jahre sind eine lange Zeit für einen sehr guten Club. Ähnlich wie eine Band kann ein Club eigentlich nur für einen gewissen Moment richtig großartig sein. Und auch wenn es Vermieterquerelen waren, die letztlich das Ende besiegelten, war es vielleicht auch eine kleine, wahre Müdigkeit der Betreiber und Gäste. Eine Müdigkeit, die in den letzten Wochen vor der Schließung überall zu beobachten war, weil in jeder Ecke noch mal Menschen standen, die ein Stück ihres Lebens im Atomic zugebracht hatten.

Sie waren angereist, aus Berlin, Hamburg oder mittlerweile doch Fröttmaning, um das alles noch mal nachzufühlen, die Meter abzugehen, die Theke zu streicheln und sie sahen ein bisschen müde dabei aus, genau wie Hannes Liebl an den Plattentellern. So müde, wie man nach einer großartigen, 18 Jahre langen Nacht eben aussieht. Und da war die Lavalampe im Eck, die man jahrelang nicht beachtet hatte, aber von der man jetzt sah, dass ihre Lava nicht mehr schmolz. So ist das eben.

Wenn die Lava nicht mehr zergeht, ist etwas vorbei. Und wenn das Atomic von Donnerstag an Vergangenheit ist, nimmt es all die Menschen, Geschichten, Prügeleien und Knutschereien mit in diese Vergangenheit. Immerhin, das Licht dort ist auch immer eine Capri-Sonne. Und der einzige Trost ist, dass sich die Musik einen neuen Ort suchen wird.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2014/tba
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