Süddeutsche Zeitung

Abheben auf dem Boden:Wie im Flug

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Nils Alegren hat das Cockpit einer "Caravelle" zu einem Simulator umgebaut. In der Maschine, die jetzt in Ismaning steht, saßen einst schon die Beatles

Von Christoph Koopmann

Gedämpftes Dröhnen dringt in die beengte Kabine, die Lüftung rauscht, dazu das staccatoartige Klicken der Anzeige für den Kerosinverbrauch. Jetzt müssen die Füße von den Bremspedalen. Nils Alegren zieht vom Co-Piloten-Sitz aus den Schubhebel für das Fahrwerk der uralten Caravelle, und langsam kommt die Maschine auf der Startbahn des Münchner Flughafens ins Rollen. Hinter den winzigen Fenstern verschwimmt der graue Asphalt der Piste mit zunehmender Geschwindigkeit, die Felder und Wiesen rundherum verwischen zu grün-gelben Schleiern. Jetzt den Steuerknüppel vorsichtig nach hinten ziehen, dann hebt sich die Nase des Flugzeugs in den Himmel.

Die Caravelle, die gerade gestartet ist, kann nicht mehr fliegen. Einst waren Charles de Gaulles und die Beatles an Bord genau dieser Maschine. John Lennons Bordkarte vom Juni 1964 fand Alegren in einer Ritze im Cockpit. Doch vor 36 Jahren hat man dem Flugzeug die Nase amputiert, die heute in einer kleinen, fensterlosen Halle in Ismaning steht. Nils Alegren, hochgewachsen, blondes Haar und hellblaue Augen, hat sie zum Flugsimulator umgebaut. Der 34-Jährige ist fasziniert von alten Flugzeugen. "Für mich ist es wahnsinnig toll, so eine Maschine wieder zum Leben zu erwecken", sagt er.

Dieses Retro-Feeling soll auch seine Gäste packen: Das sieben Meter lange und drei Tonnen schwere Cockpit des 1960 gebauten Mittelstrecken-Jets steht zwischen allerhand Retro-Devotionalien. An einer Wand der Halle klebt pink-orangene Siebzigerjahre-Tapete, daneben steht ein originaler Flugzeug-Servierwagen aus diesen Tagen. Sogar die Zeitschriften sind von 1974. Über eine Fluggasttreppe vom Frankfurter Airport steigt der Besucher in den vorderen Teil des Fliegers.

Bevor die Nase der Caravelle in Alegrens Besitz kam, lag sie lange fast vergessen mit anderem Schrott im Freien herum, ehe sie in ein Pariser Museum gebracht wurde. Als Alegren die Nase 2012 kaufte, war sie ein Wrack. Vier Jahre und 5000 Stunden Arbeitszeit hat es gebraucht, sie zu restaurieren - Alegren hat das zum größten Teil allein gemacht. "Vorher hatte ich kaum Ahnung von Technik, ich habe mir vom Lackieren der Hülle bis zum Löten der Schalter alles selbst beigebracht", sagt er. Über 11 000 Seiten Wartungshandbücher hat er akribisch durchforstet, ehe er sämtliche Kniffe kannte.

Wer sich jetzt durch die kaum schulterbreite Tür ins Cockpit zwängt, fühlt sich unmittelbar in der Zeit zurückversetzt. Dort erwartet einen beklemmende Enge und der muffige Geruch von jahrzehntealtem Nikotin, das sich in den olivgrünen Sitzpolstern festgesetzt hat. Vor, über und neben dem Piloten erstreckt sich ein Wust aus zahllosen Leuchten, Schaltern und Hebeln. Hier gibt es keine modernen Displays, keine Hightech-Armaturen. "Das sind alles Originalteile", sagt Alegren stolz.

Mit dieser Technik erfordert es ziemlich viel Feingefühl, den Steuerknüppel so zu justieren, dass die Caravelle geradeaus übers Erdinger Moos gleitet. Ständig muss man die Instrumente im Blick haben: Höhenmesser, Kompass, eine Art Wasserwaage für die Lage des Flugzeugs in der Luft, den Tacho. Zu vermeiden, dass man versehentlich in einem Garchinger Wohngebiet abstürzt, verlangt ungeübten Fliegern höchste Konzentration ab.

Zur Not greift Nils Alegren ein, auch wenn er sich diesmal als Co-Pilot zurückhält. Seit elf Jahren fliegt er für eine deutsche Airline Passagiere um die halbe Welt. Zurzeit steuert er als Kapitän den Airbus A 330. "Auf Dauer ist die moderne Fliegerei aber langweilig", findet er. Man drücke ein paar Knöpfe, und den Rest erledige der Autopilot. "Aber hier in der Caravelle fliegt man noch richtig ursprünglich, muss so gut wie alles manuell regeln und mit Muskelkraft arbeiten", sagt der Simulator-Betreiber. Durch die viele Tüftelei an der Caravelle "kenne ich das Cockpit besser als das, in dem ich beruflich unterwegs bin".

Für ihn sind die simulierten Flüge mit dem französischen Uralt-Jet auch eine Reise durch die Familiengeschichte. Sein Bruder und sein Vater sind Verkehrspiloten, seine Mutter war Stewardess bei Air France - sie bediente die Passagiere in der Maschine, deren vorderen Teil der Sohn heute besitzt. Bis er 22 war, lebte Nils Alegren mit seiner Familie in Toulouse, wo in den heutigen Fertigungshallen von Airbus einst auch die Ismaninger Caravelle gebaut wurde.

Im Juni dieses Jahres hat er hier dann den Simulator-Betrieb aufgenommen. Wer auf Alegrens Website flycaravelle.com einen Simulatorflug bucht, bekommt die Detailverliebtheit des Piloten zu spüren, schon lange bevor es ins Cockpit steigt. Der Flug-Gutschein ist den Tickets nachempfunden, die Air France einst für die Caravelle verkaufte. Wer sich ganz akribisch einarbeiten will, kann online schon vorab die Funktionen der zahllosen Knöpfe und Hebel studieren und sich Flugmanöver einprägen.

Wenn es dann ans Fliegen geht, hält sich Alegren nicht mit langem Geplänkel auf. "Normalerweise unterhalte ich mich eine Viertelstunde mit den Kunden und weise sie ein. Dann geht's auch schon ans Steuer", sagt er. Ein halbstündiger Flug kostet 89 Euro, Fortgeschrittene können wahlweise auch eine, zwei oder gar vier Stunden fliegen. Irgendwann aber kommt immer die Zeit für die Landung. Dabei können Ungeübte schon mal ins Schwitzen kommen. Den richtigen Anflugwinkel zu erwischen, möglichst sanft aufzusetzen und die Caravelle unfallfrei auf der Piste zum Stehen zu bekommen, erfordert die ursprünglichen Anforderungen des Fliegens: das Können des Piloten, nicht der Technik.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2016
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