Als die Schüsse fielen, war der Putsch bereits gescheitert. Vor 90 Jahren trafen sie vor der Münchner Feldherrnhalle aufeinander: eine Hundertschaft der Bayerischen Landespolizei und eine Horde von Putschisten, die marodierend und in wilder Ordnung die Residenzstraße heraufzogen. Im Gewehrfeuer der Polizisten endete an diesem 9. November 1923 um die Mittagszeit der Versuch Adolf Hitlers, sich an die Macht zu putschen. Misslungen aber war der Staatsstreich bereits am Abend zuvor - und mit verantwortlich dafür war eine Frau, die weitgehend aus der Geschichtsschreibung herausgefallen ist.
Es war die Landespolitikerin Ellen Ammann, die am frühen Abend des 8. November zufällig von den Putschplänen der Nationalsozialisten erfahren hatte. Sie griff sofort zum Telefonhörer, verständigte alle Mitglieder der Regierung sowie der Bayerischen Volkspartei (BVP), die sie erreichen konnte, und die noch nicht von den Putschisten verhaftet worden waren. Den stellvertretenden Ministerpräsidenten Franz Matt benachrichtigte einer ihrer Söhne gar mit dem Fahrrad.
Ammann bat die Politiker in die von ihr gegründete Frauenschule in der Theresienstraße. Dort hielten sie Kriegsrat; noch am selben Abend erklärten sie in einer Regierungserklärung den Putsch zum Staatsverbrechen.
Ammann sorgte dafür, dass Einheiten der Reichswehr nach München verlegt wurden. Und sie organisierte ein Auto, das die Regierung in ein Ausweichquartier nach Regensburg brachte. Hätte Amman gezögert, die Politiker um Franz Matt wären wohl von den Nationalsozialisten überrascht worden. Und der Putschversuch Hitlers hätte womöglich ein anderes Ende genommen.
Wegbereiterin der modernen Sozialarbeit
Ellen Ammann war eine schwedische Münchnerin: Geboren 1870 in Stockholm, heiratete sie 1890 einen Münchner Orthopäden und zog nach Bayern. Einen leichten Stand hatte sie nicht, als zwar katholisch erzogene, aber evangelisch getaufte Ausländerin, die sich noch dazu für die Belange von Frauen einsetzte. In München wurde Ammann dennoch zur Wegbereiterin der modernen Sozialarbeit.
Im Jahr 1895 beispielsweise gründete sie mit anderen Frauen den "Marianischen Mädchenschutzverein", aus dem unter anderem die erste katholische Bahnhofsmission Deutschlands entstand. Mädchen vom Land, die in der Stadt Arbeit suchten, sollten vor unsittlichen Angeboten und Ausbeutern geschützt werden. 1904 gründete Ammann den Münchner Zweig des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), um politisch für die Rechte von Frauen einzutreten; 1911 folgte der bayerische Landesverband. Zudem gründete sie 1909 die "Soziale und Caritative Frauenschule", in der sich während des Hitlerputsches die Regierung versammeln sollte.
In der Schule erhielten sonst Frauen eine professionelle Ausbildung in sozialen Berufen - in einer Zeit, in der Frauen sich qualifiziert allenfalls zu Lehrerinnen ausbilden lassen konnten, war das revolutionär. Auch wegen ihres Einsatzes wurde Ammann als Abgeordnete der BVP in jeden bayerischen Landtag nach 1918 gewählt. Und das alles bewältigte sie neben der Familie: Mit ihrem Mann hatte Ammann sechs Kinder.
Mit den Nationalsozialisten hatte Amman bereits im Frühjahr 1923 zu tun: Nachdem SA-Leute einem Pazifisten ein Auge ausgeschlagen hatten, setzte sich Ammann gemeinsam mit den Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann dafür ein, den Österreicher Hitler aus Bayern auszuweisen, wenn auch ohne Erfolg. Es ist eine nahezu vergessene Episode der Geschichte, ebenso wie Ammanns Rolle während des Hitlerputsches 1923.
In den Geschichtsbüchern taucht ihr Name selten auf. Sabine Schalm, die Kuratorin des neuen Münchner NS-Dokumentationszentrums, sieht darin einen "ganz klaren Gender-Aspekt", ebenso die Historikerin Gerlinde Wosgien vom KDFB: In einer von Männern geschriebenen Geschichte sei Frauen keine Rolle zugewiesen worden.
Hinzu kommt, dass sich die historische Forschung lange mehr für Gewehrschüsse als für Telefonanrufe interessiert hat. Noch dazu konzentrierte sie sich allzu oft auf die Zeit zwischen 1933 und 1945. So teilt Ammann das Schicksal anderer weitgehend vergessener Verteidiger der Republik, die sich den Nationalsozialisten früh in den Weg stellten - darunter auch Männer wie der Innenminister Karl Stützel von der Bayerischen Volkspartei oder der Polizist Michael von Godin.
Inzwischen hat sich der Blick geweitet. Das NS-Dokumentationszentrum, das 2014 eröffnen soll, zählt Ammann nun zu den frühen Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus, ebenso das Haus der Bayerischen Geschichte in Augsburg: In seinem im kommenden Monat erscheinenden Sonderheft "Rebellen, Visionäre Demokraten" wird Ammanns Biografie ihren Platz finden.
Aktiv gegen das Regime der Nationalsozialisten kämpfen konnte Ammann nicht, sie erlebte deren Machtübernahme nicht mehr. In der Nacht auf den 23. November 1932 starb sie im Alter von 62 Jahren nach einer erschöpfenden Debatte über die Lage kinderreicher Familien an einem Gehirnschlag; sie liegt auf dem Alten Südfriedhof begraben. Die Nationalsozialisten aber hatten ihren Widerstand nicht vergessen: Als 1933 eine Vertraute eine Ammann-Biografie veröffentlichte, ließen sie alle 60 000 gedruckten Exemplare einstampfen.