70. Jahrestag der Reichspogromnacht:Versteinerte Mienen

München gedenkt der Opfer: Eine Gedenkstunde im Alten Rathaus erinnert an den Beginn der Hetzjagd auf die jüdischen Mitbürger.

Astrid Becker

"Der 9. November 1938 ist ein Mittwoch. Das Münchner Wetter an diesem Tag ist für die Jahreszeit ungewöhnlich mild" - mit diesen Worten beginnt der Historiker Andreas Heusler vom Stadtarchiv seinen Vortrag zur Gedenkstunde an einen Tag, der nicht das Wetter, aber das Klima für die jüdischen Mitbürger lebensbedrohlich verändern sollte. Denn am Abend jenes Tages stellte der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels im Alten Rathaus die Weichen für die Hetzjagd auf deutsche Juden. Allein tausende Münchner Juden sollten in der Folge in Konzentrationslagern ermordet werden.

70. Jahrestag der Reichspogromnacht: Gemeinsam gedenken: Charlotte Knobloch und Erzbischof Reinhard Marx.

Gemeinsam gedenken: Charlotte Knobloch und Erzbischof Reinhard Marx.

(Foto: Foto: Haas)

Die Gedenkstunde an diesem frühen Sonntagabend im Alten Rathaus soll daran erinnern. Sie beginnt mit jüdisch-liturgischen Melodien, die das Quartett des Orchesters Jakobsplatz vorträgt. Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, erinnert sich daran, dass sie selbst vor 70 Jahren nicht von Menschen umgeben war, "die sich solidarisch zeigten, ich war eine Ausgestoßene, eine Gejagte".

Sie mahnte, auch weiterhin "Demokratie und Grundrechte" zu verteidigen und zu widersprechen, "wenn Neonazis ihre schmutzigen Parolen verbreiten." Demokratie und Grundrechte seien auch heute keine Selbstverständlichkeit, "sondern unendlich wertvolle Rechtsgüter, die jeden Einzelnen verpflichten, gegen Antisemitismus einzutreten". Auch OB Christian Ude rief dazu auf, sich rechter Gewalt zu widersetzen. Es sei für München beschämend, dass die Pogromnacht als "Generalprobe für noch viel unvorstellbar größere Verbrechen" hier begonnen habe. Das "Wegschauen der Gesellschaft" sei "ebenso erschütternd wie das Geschehen selbst".

Heusler schilderte das Verhalten der Münchner damals: Die Mehrheit habe die Exzesse äußerlich zwar teilnahmslos beobachtet, einige seien dennoch nicht gleichgültig geblieben: So zeigten Fotos die versteinerten Mienen einiger Münchner am Tag danach - Bilder, die in einer Ausstellung im Rathaus zu sehen sind.

Am späten Abend verlieh dann Knobloch in der Synagoge erstmals die Ohel-Jakob-Medaille: an OB Ude und Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber. Der Historiker Michael Wolffsohn vom Vorstand der Kultusgemeinde würdigte in seiner Laudatio vor etwa 500 hochrangigen Gästen das Engagement der beiden Politiker für den Bau der Synagoge und des Gemeindezentrums am Jakobsplatz: "Sie haben sich noch mehr als andere und noch freundschaftlicher als andere für die jüdische Sache eingesetzt."

Stoiber und Ude repräsentierten "die bundesdeutsche Rechtsstaatlichkeit und ihre geschichtspolitische Ethik" als "Kontrastprogramm zum NS-Mörderstaat". Stoiber sagte laut vorab verbreitetem Redetext, die Münchner Synagoge sei ein Symbol der Heimkehr und des Neubeginns.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: