"Die Straßen waren ungewöhnlich leer, rauchig und grau. Die Luft wurde immer dicker vor lauter Ruß, je näher ich an die Herzog-Rudolf-Straße kam. Dann sah ich plötzlich die ersten Flammen. (...) Ich ging weiter die Straße entlang bis ich fast gegenüber der Schule war und auch nur ein paar Schritte von den Soldaten entfernt. 'Meine Schule brennt', wiederholte ich, wer weiß wie oft, wahrscheinlich unhörbar geflüstert. 'Ja, meine Schule brennt, und niemand kommt die Flammen auszulöschen!' Erst dann hörte ich eine Stimme. Ich glaube es war eine Männerstimme: 'Die verbrennen die Synagoge!'"
So erinnert sich Zeitzeugin Melanie Dewynter an den Morgen danach. Genau 70 Jahren ist es her, dass in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 in Deutschland die Schergen des Nazi-Regimes tobten. In München hinterließen sie zersplitterte Schaufenster, brennende Synagogen, zahlreiche Verletzte und mindestens ein Todesopfer. Historiker bezeichnen die Reichspogromnacht als "Probelauf für den Holocaust". Was wenigen bewusst ist: Das Signal kam aus dem Alten Rathaus in München. Hier feierten Goebbels, Hitler und Heydrich im Kreise hochrangiger brauner Kumpane den Hitlerputsch von 1923.
Blutrot leuchteten die Hakenkreuzfahnen an diesem Tag überall in der Stadt. Die Stimmung war angespannt. Nachdem ein junger polnischer Jude am Morgen des 7. November 1938 in Paris fünf Schüsse auf den Legationsrat Ernst von Rath abgefeuert hatte, schrieben die Münchner Neuesten Nachrichten: "Wenn die internationale Judenschaft glaubt, mit Meuchelmorden das Judenproblem in Deutschland lösen zu können, dann nimmt Deutschland diese Herausforderung an."
Auch Goebbels gab in seiner Hetzrede den Juden insgesamt die Schuld für den Mord an Rath und sprach von Rache. "Die Partei hat solche Aktionen zwar nicht zu organisieren, aber sie auch dort, wo sie spontan entstehen, nicht zu verhindern." Die anwesenden Parteiführer verstanden, dass sie nach außen nicht als Urheber in Erscheinung treten, die Demonstrationen aber in Wirklichkeit organisieren sollten.
Die Intensität des Terrors war neu
Um 23.59 Uhr ging in der Münchner Branddirektion die Meldung ein, im Schaufenster des jüdischen Textilwarengeschäfts Hans Weber in der Augustenstraße 113 habe es ein Kleinfeuer gegeben - der Auftakt einer Serie von mutwilligen Zerstörungen und Plünderungen, die bis in die frühen Morgenstunden dauern sollten. Zu dieser Zeit war die jüdische Gemeinde Münchens die siebtgrößte in Deutschland. Zu ihr gehörten Künstler wie Lion Feuchtwanger oder Hermann Levi. Regelmäßig besuchten die Münchner das jüdische Kaufhaus Tietz am Hauptbahnhof (später Hertie, heute Karstadt).
Auch das Kaufhaus Uhlfelder zwischen Oberanger, Rosental und Nieserstraße stand mit seinen Rolltreppen, einem Streichelzoo mit lebenden Tieren und eigener Gastronomie im Haus für das fortschrittliche und erfolgreiche Münchner Judentum - und wurde damit zur verhassten Zielscheibe für die Nazis. Bereits vor der Reichpogromnacht waren zahlreiche jüdische Geschäfte arisiert oder liquidiert worden. Im Juni 1938 wurde in München die Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße auf Befehl der Nazis abgerissen. Die physische Gewalt, der die jüdische Gemeinde in der Reichspogromnacht ausgesetzt war, war jedoch neu - und kam für viele überraschend.
Neben Geschäften waren religiöse und soziale Einrichtungen das Ziel der Randalierer. So drangen SA-Leute in Zivil in die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße ein und verwüsteten die Einrichtung. Anschließend setzten sie das Gebäude in Brand. Als Rabbiner Ehrentreu versuchte, zumindest die 70 Thorarollen zu retten, wäre er fast selbst ins Feuer geworfen worden.
"Der Starnberger See hat genug Platz für euch alle!"
Neben dem neuen Betsaal in der Reichenbachstraße wurden auch die jüdischen Altersheime in der Kaulbachstraße 65 und Mathildenstraße 8-9 in der Reichspogromnacht gewaltsam gestürmt, Geld und Einrichtungsgegenstände gestohlen. Eine Heimbewohnerin, damals 83 Jahre alt, erzählte später: "Ich bin zu einem SA-Mann gegangen und habe ihn gefragt, wo ich hingehen solle, ich hätte keine Verwandten mehr. Wissen Sie, was er mir geantwortet hat? - Der Starnberger See hat genug Platz für euch alle!"
Der Terror blieb für keinen Münchner unbemerkt. Hier und da provozierten die gewaltsamen Übergriffe wohl auch Entsetzen, ein wahrnehmbarer Aufschrei der Empörung blieb jedoch aus. Auch die Kirche, die sich im katholischen Bayern die größte Restautonomie bewahrt hatte, schwieg. Kritiklos und gleichgültig wurde in weiten Teilen der Münchner Bevölkerung die antijüdischen Gewaltakte hingenommen - und wortlos gebilligt.
Einige Zeitzeugen berichten sogar von "Worten der Schadenfreude" und der "Häme". "Was wir uns damals gedacht haben - ja, entsetzt waren wir schon, und doch auch wieder nicht so arg. Man war nicht allzu gut auf die Juden zu sprechen", schrieb etwa die Arbeiterin Josefa Halbinger in ihrer Biografie. Selbst dass die Gewaltexzesse gegen jüdische Bürger in München mindestens ein Todesopfer forderten, schien viele kalt zu lassen.
"Ein Menschenleben ist nicht wichtig"
SA-Männer hatten die Scheiben des Geschäfts von Joachim (Chaim) Both in der Lindwurmstraße 185 eingeworfen. Durch den verursachten Lärm wurden Gäste einer benachbarten Wirtschaft aufmerksam. Sie stellten die Steinwerfer zur Rede und verprügelten sie. Es ist der einzige aktenkundige Fall, in dem sich nichtjüdische Münchner den Gewalttätern in den Weg stellten. Doch der Obersturmführer wollte sich das nicht gefallen lassen. Er kehrte mit seinen Männern zurück und drang in die Wohnung der Boths ein, um "Ordnung zu schaffen". Als das Ehepaar Both von einem Theaterbesuch zurückkehrte, überraschte es die plündernden SA-Männer.
"Wir hatten den Hauseingang noch nicht betreten, als sich etwa zehn Männer, die im Hauseingang standen, auf uns stürzten und mit den Händen auf uns einschlugen. Mein Mann und ich fingen sofort das Schreien an. Einige Männer warfen sich auf meinen Mann und zerrten ihn in die im ersten Stock gelegene Wohnung. Als ich kurz darauf ebenfalls dorthin kam, verließen die Männer bereits wieder die Wohnung, wobei mir noch einer einen Faustschlag ins Gesicht gab. Ich stellte zunächst fest, dass die Wohnungstüre aufgesprengt oder eingeschlagen war." Im Zimmer ihres Sohnes Max fand Marjem Both dann die Leiche ihres Mannes.
Weitere 1000 Münchner Juden wurden in der Reichspogromnacht verhaftet und zunächst in die Staatspolizeistelle im Wittelsbacher Palais, in die Polizeihauptwache in der Ettstraße und ins Gefängnis Stadelheim gebracht, und innerhalb weniger Stunden nach Dachau transportiert. Viele starben dort.
Alfred Heller erinnert sich folgendermaßen an die Haftzeit im dortigen KZ: "Bei der Aufnahme, Fußtritte und Riemenschläge klatschen und prasseln auf nackte Körper. (...) Dem leidenden Alten, der sich mühsam zum Appellplatz schleppt, fällt ein Faustschlag ins Genick, der ihm die Wirbelsäule bricht. Ein Kranker auf einer Bahre wird aus Schulterhöhe auf die Erde gekippt wie ein Mehlsack, liegt hilflos und krabbelt, unfähig sich aufzurichten, auch als grobe SS-Stiefel ihn mit Fußtritten traktieren. Der Scharführer ruft nach gliederzerrendem Strafhüpfen, dem völlig Erschöpften, der sich am Boden windet, zu: "Meinst du es wird eine Landestrauer sein, wenn Du verreckst?" Ein Menschenleben ist nicht wichtig. Es gibt keine Ehrfurcht vor dem Tod. Nichts ist heilig - außer der Gewalt."
Quelle: Andreas Heusler, Tobias Weger: "Kristallnacht". Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938. Buchendorfer Verlag, Stadtarchiv München.